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#Lesenswert

17.12.2014

Edition Romiosini / CeMoG

Der bereits als „Unwort des Jahres“ gekürte Begriff alternativlos hat sich vor allem seit der Finanz- und Europakrise 2009 zunehmend etabliert und steht für eine populäre Mentalität, die vor allem in den Wirtschaftswissenschaften den Imperativ der richtigen Politik sieht – im Gegensatz zu den „Berufspolitikern“, die als nicht spezialisiert und daher als altmodisch und inkompetent dargestellt werden.

Der Rechtswissenschaftler und Europapolitiker Dimitris Tsatsos hatte schon vor 40 Jahren das Phänomen „der Naivität vom Glauben an das Ende der Geschichte und des Missbrauchs des Wissens als Trojanisches Pferd des Totalitarismus“ befürchtet. Sein Artikel „Die Bedeutung des staatlich Richtigen“ aus dem Buch Probleme der Demokratie (Athen 1973) wurde im selben Jahr, noch während der Militärdiktatur, in der deutschsprachigen Anthologie Die Exekution des Mythos… fand am frühen Morgen statt publiziert. Anlässlich des 40. Jahrestages seit der politischen Wende durch die Wiederherstellung der Demokratie in Griechenland, auf die sich unsere Veranstaltung „Gemeinsamer Widerstand“, aber auch kommende Titel unseres Publikationsprogramms beziehen, schlagen wir seine erneute Lektüre vor.

Dimitris Tsatsos: Die Bedeutung des staatlich „Richtigen“

Hier erhebt sich die Frage, welches Gewicht der Meinung der Spezialisten, der „Technokraten“, für den Gang der Staatsverwaltung zuzuschreiben ist.

Es ist ein Gemeinplatz, dass der moderne Staat, auch der moderne demokratische Staat, nicht imstande ist, den ganzen Bereich des Gesellschaftsprozesses in seine Verwaltungsarbeit einzubeziehen; anders gesagt, der Staatszweck kann nicht mehr aufgrund der nicht spezialisierten Kenntnisse des traditionellen Politikers durchgesetzt werden. Der Berufspolitiker gehört zwar allmählich zur sogenannten Verfassungswirklichkeit. Er gehört aber nicht unbedingt zur Verfassungsintention; die wachsende Zahl von Berufspolitikern löst jedenfalls auch nicht die Probleme, die mit dem Ungenügen des traditionellen Politikers Zusammenhängen.

Der wissenschaftliche Fortschritt und die Entfaltung der Technik schaffen neue Fakten in der Politik, neue Fakten bei der Aufstellung konkreter politischer Imperative. Die Suche nach dem politisch, also auch staatlich „Richtigen“ und „Machbaren“ führte den Menschen zum demokratischen Prinzip der Mehrheit, und zwar aufgrund zweier Umstände: erstens der historischen Erfahrung, dass das absolut Richtige und folglich auch der absolut richtige politische Imperativ nichts anderes als eine Behauptung desjenigen ist, der damit seiner Überzeugung Autorität verleihen will. Es handelt sich um den logischen Ausgangspunkt des Totalitarismus. Zweitens aufgrund des Umstands, dass das, was die Mächtigen als Recht oktroyiert haben, in Frage gestellt worden ist. Angesichts des Unvermögens der Menschen, das „Richtige“ im gesellschaftlichen Leben objektiv zu bestimmen, ergibt sich keine andere Möglichkeit, als die politischen Imperative durch die Mehrheit der Mitglieder der Gesellschaft festsetzen zu lassen. Das bedeutet, dass in der Demokratie die Frage nach dem „absolut Richtigen“ offenbleibt. Diese historisch unabänderliche Ungewissheit ist die allerwichtigste Garantie der Freiheit. Umgekehrt präsentiert sich der Totalitarismus jeder Spielart mit der Selbstgefälligkeit desjenigen, der die Antwort auf die Frage der Geschichte gefunden hat. Er beruft sich dabei auf irgendein „unfehlbares“ philosophisches System oder auf irgendeinen Begriff von „Ruhe und Ordnung“. Offenbar fördert der heutige Fortschritt von Wissenschaft und Technik gerade diese Ersetzung des Mehrheitskriteriums durch die Aufstellung des „absolut Richtigen“ —, wobei Wissenschaft und Technik so dargestellt werden, als lieferten sie allein richtige Diagnosen und richtige Lösungen aller Probleme, ja sogar der spezifisch politischen. In starkem Maße vereinfachend, gelangen wir also zu der Frage, ob nicht die politische Legitimität der Mehrheit durch das Fehlen zureichender spezieller Kenntnisse aufseiten der Stimmberechtigten erschüttert wird.

Der Anspruch des „Technokraten“ auf die „absolute Gültigkeit“ seines auf objektiven Kenntnissen basierenden Urteils über den politischen Imperativ ist nichts anderes als eine absichtliche Unterminierung, eine bewusste Relativierung des Wertes des demokratischen Prinzips. Er trägt die gleichen historischen Merkmale wie die Theorie des „wertneutralen Staates“ oder des „friedliebenden“, politisch desinteressierten Bourgeois, und er verfolgt genau das gleiche Ziel: die Zementierung des staatlichen Totalitarismus. Doch welcher Art der Fortschritt von Wissenschaft und Technik auch immer gewesen sein mag, es ist nicht gelungen, das Unvermögen des Menschen, bei den großen Themen des gemeinschaftlichen Lebens den „absolut richtigen politischen Imperativ“ zu finden, zu überwinden. Wer an die Überwindung dieses Unvermögens glaubt, glaubt mit unendlicher Naivität an das Ende der Geschichte. Konstitutives Element der Demokratie ist, dass diese Frage unbeantwortbar ist. So bleibt das Prinzip, dass Ziel und Funktion des Staates durch die Freiheit aller und durch den Willen der vielen gestaltet werden, die einzige, logisch absolute Notwendigkeit der Geschichte.

Die Rolle des Spezialisten bleibt unbestritten; aber die Legi­timität seiner Entscheidungen im politischen Prozess des Staates erwächst nicht aus seiner Kenntnis, sondern aus der politischen Vollmacht des souveränen Volkes. Auf diese Weise entsteht kein Widerspruch zwischen Autorität durch Fachkenntnis und demokratischem Prinzip; Fachkenntnis wird zum kontrollierbaren Mittel der Verwirklichung demokratisch legitimierter Ziele. Das Element der Qualität wird vom Mehrheitsprinzip nicht ausgeschlossen, es wird zu einem weiteren Faktor für das Funktionieren des Staates.

Allein eine solche Integration des Fachmannes in den staatlichen Prozess schützt vor dem Missbrauch des Wissens als trojanischem Pferd des Totalitarismus und verhindert das Aufkommen politisch unkontrollierter und unverantwortlicher Kräfte, die sich durch Berufung auf religiös-ethische Aufwallungen, nationalistische Lehren oder Parolen von „sozialer Gerechtigkeit“ durchsetzen, wobei sie ihren Legitimitätsanspruch mit der „tieferen Kenntnis der Wirklichkeit“ begrün­den. Solche Irrlehren sind stets im Vorzimmer der Gewalt angesiedelt, in dem immer gleichen Schaufenster einer jeden Diktatur — welcher Spielart und wo auch immer sie sei.

Aus dem Griechischen von Danae Coulmas und Nonna Nielsen-Stokkeby



Über den Autor

Dimitris Tsatsos wurde 1933 in Athen geboren. Er studierte Jura in Athen und Heidelberg, wo sein Vater Professor war. 1968 habilitierte er sich in Bonn. 1970 wurde Tsatsos Professor an der Rechts- und Staatswis-senschaftlichen Fakultät der Universität Bonn, im Beamtenverhältnis auf Lebenszeit. 1969 wählte die juristische Fakultät der Universität von Thessaloniki Tsatsos einstimmig zum Ordinarius für öffentliches Recht, er wurde jedoch vom Diktator G. Papadopoulos, der damals auch das Amt des Kultusministers bekleidete, nicht ernannt. 1973 wurde Tsatsos zusammen mit anderen Mitgliedern der 1972 verbotenen „Gesellschaft zum Studium Griechischer Probleme“ verhaftet. Er blieb bei der Militärpolizei in Isolierhaft bis Ende Juli 1973. Dann, kurz vor dem Referendum, wurde er vorläufig entlassen. Von 1980 bis 1989 lehrte er Verfassungsrecht an der Panteion-Universität Athen und Deutsches und Ausländisches Staatsrecht an der Fernuniversität Hagen. 1994 bis 2004 war Tsatsos Mitglied des Europäischen Parlamentes in der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas. Er starb in April 2010 in Athen.