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04.05.2015

Edition Romiosini / CeMoG

Die Romantrilogie Steuerlose Städte (Ακυβέρνητες πολιτείες, 1961-1965) von Stratis Tsirkas ist ein Meisterwerk der literarischen Moderne, das dank der Förderung der A und A Kulturstiftung fast 45 Jahre nach seiner englischen und französischen Übersetzung im Herbst 2015 auch in deutscher Sprache erscheint. Im Anschluss an die Frankfurter Buchmesse werden der Übersetzer Gerhard Blümlein, der Literaturwissenschaftler und Direktor des CeMoG, Miltos Pechlivanos, sowie der Lyriker Joachim Sartorius am 23. Oktober 2015 über Tsirkas' Werk und die Edition Romiosini/CeMoG diskutieren.

Als Vorgeschmack auf das Erscheinen der Trilogie möchten wir an dieser Stelle einen Auszug aus der Einleitung von Joachim Sartorius präsentieren.

Joachim Sartorius: „So viele erregende Essenzen wie möglich“ Zu Stratis Tsirkas und seiner Trilogie Steuerlose Städte

Die griechische Gemeinde Ägyptens hat im 20. Jahrhundert zwei große Schriftsteller hervorgebracht, den Dichter Konstantinos Kavafis und den Romanautor Stratis Tsirkas. Tsirkas war neunzehn Jahre alt, ein junger Mann von gewinnendem Aussehen, wenn man den Fotografien traut, als er Kavafis in Alexandria kennen lernte. Geboren 1911, aufgewachsen in Kairo, verbrachte Tsirkas mit seiner Familie die Sommer in Alexandria, bis er 1939 ganz nach Alexandria zog, um die Geschäfte der Gerberei ‚Halkousis‘ zu führen. 1930, in dem Jahr, in dem er Kavafis zum ersten Mal traf, war dieser schon ein alter Dichter, unter den literati der Hafenstadt berühmt, ansonsten eher ein Geheimtipp. Seine Gedichte zirkulierten auf losen Blättern bei seinen Freunden und Bewunderern. Erst 1935 erschien in Athen die erste gebundene Ausgabe seiner Gedichte, und es sollte noch einmal drei Jahrzehnte dauern, bis seine Poesie einen Siegeszug rund um die Welt antrat. Stratis Tsirkas hatte 1930 erste Gedichte veröffentlicht und bewunderte Kavafis. Er versuchte, so oft wie möglich von Kairo nach Alexandria zu kommen, um ihn zu sehen. Zwischen beiden Männern entstand eine Freundschaft, die bis zum Tod des Meisters im Jahre 1933 anhalten sollte. Im Kavafis-Museum in Alexandria, der ehemaligen Wohnung des Dichters in der Sharm el Sheikh Straße 4, ist eines der fünf Zimmer Stratis Tsirkas gewidmet, mit Fotografien, Autographen und den Erstausgaben seiner Bücher, darunter dem großen Essay Kavafis und seine Zeit (1958) und seinem Hauptwerk, der Romantrilogie Steuerlose Städte, die zwischen 1960 und 1965 in Athen erschien und auf dem Hintergrund griechischer Bedrängnisse im Nahen Osten während des zweiten Weltkriegs die großen Fragen nach der Verantwortung und der Freiheit des Intellektuellen in Zeiten ideologischer Umbrüche stellt.

1971 erhielt diese Trilogie in Frankreich den „Prix du meilleur livre étranger“. 1974 erschien sie bei Alfred A. Knopf, einem der angesehensten literarischen Verlage der USA, unter begeistertem Zuspruch der Kritik. In Griechenland gehört das Werk inzwischen zum Kanon der klassischen Moderne. Bei uns hat es aus unerfindlichen Gründen ein halbes Jahrhundert gedauert, bis dieser gewaltige Roman nun endlich in deutscher Übersetzung vorliegt.

Wenn Stratis Tsirkas dem dritten Teil seiner Trilogie den ‚Hinweis‘ vorausstellt, sie sei „kein historischer Roman im engeren Sinn“, so stimmt dies insofern, als sein Werk weit mehr ist als ein großer historischer oder politischer Roman. Das gewiss auch, aber die Trilogie besticht ebenso sehr durch die dichte Beschreibung des Nahen Ostens, durch die genaue Erfassung und Vergegenwärtigung von Städten und Landschaften und ihrer Bewohner. Ganz im Gegensatz zu Lawrence Durrell und auch zu E. M. Forster schreibt Tsirkas ohne jeden ‚Orientalismus‘. Er hat ein hoch entwickeltes Sensorium für die Ägypter und einen akuten Sinn für all das, was das östliche Mittelmeer ausmacht: Licht, Farben, Gerüche, die Architektur der alten Städte, die selbstverständliche Gastfreundschaft in den Cafés, auch arabisches Laisser-faire, Bedächtigkeit im Vergleich zur ‚griechischen Hektik‘. Als Manos sich mit zwei Genossen zu einem geheimen Unterschlupf am Rande von Alexandria begibt, nimmt er, während die beiden sich mit dem verrosteten Schloss abmühen, die Umgebung wahr: „Der Wind brachte von der nassen Erde den Geruch von Zuckerrohr und Zimt, süßlich und aufreizend. Weit weg brannten Lichter, Lux-Lampen, und waren Stimmen und Instrumente zu hören. Irgendeine Feier, Hochzeit oder ein Beschneidungsfest. Wir waren am Ufer zu einer anderen Welt. Jenseits der Bahnlinie lag das ländliche Ägypten, das unerschütterliche, das sich herzlich wenig um unseren Krieg kümmerte.“ Tsirkas dreht hier die Perspektive um, der Betrachter wird zum Fluchtpunkt. Ein anderes, uraltes, stoisches Ägypten, das mit europäischen Wahrnehmungsmustern nicht zu verstehen ist, taucht vor uns auf und zugleich erahnen wir bei Manos eine Freigebigkeit des Geistes, welche die Selbstaufopferung als unerheblich erkennen wird und die Vergeblichkeit aller militärischen Aktionen voraussieht. An anderer Stelle spricht ein alter griechischer Fischer von den Beduinen: „Sie sagen, ihr Griechen, Engländer, Juden, Fellachen und Syrer seid alle nur vorübergehend hier. Uns bekümmert nicht, was in euren Besitzurkunden steht. Wir sind das Land, und wir haben es seit Urzeiten auf unsere Sippschaften verteilt.“ Und Ariagni, nach einem Gespräch mit ihrem Mann über die Spaltung von Einheimischen und Europäern in den Gewerkschaften, warnt davor, die Ägypter schlecht zu behandeln, und spricht die prophetischen Worte: „Warum grabt ihr einen Graben und sondert euch ab? Wohin wird euch so eine Denkweise noch bringen? [...] Meine Augen sollen das nicht sehen. Der Tag wird kommen. Ich sehe, wie sich Leute an den Kais drängen, um sie herum bergehoch die Koffer und die Bündel und die Matratzen.“

Ariagni ahnt im Jahre 1942 den Exodus der Europäer voraus, der ab 1961 – im Gefolge der Nationalisierung der Industrie durch Nasser – massiv einsetzt. Tsirkas legt in den Mund der Griechin Ariagni die eigenen späteren Erfahrungen. Nach der Verstaatlichung der Gerberei wird er 1963 zur Emigration gezwungen, muss Alexandria, die Stadt, in der er vierundzwanzig Jahre ohne Unterbrechung gelebt hatte, verlassen und verbringt die letzten sechszehn Jahre seines Lebens in Athen. Athen ist für ihn Exil, er vermisst Ägypten. Er beschwört meisterhaft in den Redewendungen seiner Protagonisten die Mehrsprachigkeit der Levante. Durch kleine sprachliche Besonderheiten lässt er den Kosmopolitismus ‚seiner‘ Stadt aufscheinen, ja aufklingen. Und er schiebt in die Handlungskapitel des dritten Bandes, also des Romans, der in Alexandria spielt, immer wieder Rückblenden, funkelnde Erinnerungskapitel, in denen Manos seine Kindheit am Meer, vor den Toren Alexandrias, bei seinem Großvater heraufholt. Es sind die unbeschwertesten Passagen der ganzen Trilogie, durchtränkt von Lichtern, Gerüchen, Sonnen, ersten Liebschaften, erstem Kummer. Eindringlich auch die Porträts der anderen Städte seiner Trilogie, zum Beispiel Jerusalem 1942 nach dem Eintreffen der ersten Flüchtlinge aus Ägypten: „Leute jeden Schlages, Männer mit Samtanzügen, gepudert und tänzelnd, Mädchen mit grellen Halstüchern und eng anliegenden Hosen, alte Frauen mit Pelzen im dicksten Sommer und Halsketten aus Ton füllten von morgens bis in die Nacht die kleinen Tische im Alaska und Astoria [....]. Später konnte man sie in der großen Halle des King David Hotels finden, wo sie Whisky tranken und tanzten, vermischt mit den höheren Offizieren der Alliierten in engster Umarmung. Reiche Levantinerinnen fuhren mit ihren riesigen Limousinen vor, hatten den Fahrer weggeschickt und ihren Liebhaber ans Steuer gesetzt. Paare, die ihre Verbindung lange verborgen gehalten hatten, zeigten diese nun offen vor, Freundeskreise tauschten endgültig und offiziell ihre Frauen oder Männer[...]. Niemals hätte man geglaubt, dass so viele und so exaltierte Menschen eine Rechnung mit Hitler zu begleichen hatten.“

Diese Passage rückt Tsirkas in die Nähe der farbenreichen, zugleich opulenten und knappen Schilderungen Odessas in den Erzählungen Isaak Babels, der Porträts persischer Städte in den Reisebüchern Nicolas Bouviers und natürlich der immer leicht aufgeregten Schilderung Alexandrias in Lawrence Durrells gleichnamigen Quartett. Als Justine, der erste Band der Tetralogie, 1957 in London erschien, hatte Tsirkas sein Romanprojekt schon im Kopf und die Menschen in der Jerusalemer Pension skizziert. Er besorgte sich die griechische Ausgabe der Justine und machte nach Lektüre die folgende Notiz: „Das sind meine Themen. Durrell hat sie mir geklaut. Ich muss sofort mit meinem Roman beginnen. Werde es ihm zeigen.“

Das Spezifische der Annäherung Tsirkas’ an seine drei Städte ist, dass er diese nahöstliche Welt nicht, wie Durrell, mit den ästhetischen Kriterien des Westens beschreibt. Das mag ganz einfach damit zusammenhängen, dass er ein ägyptischer Grieche ist, ein später Nachfahre der Ptolomäer, und in Kairo und Alexandria den größten Teil seines Lebens verbracht hat. Mit dieser Erfahrung schafft er eine bis in Sprache und Syntax hineinwirkende kulturelle, geographische und zeitliche Vertrautheit, die für den Leser fast physisch nachvollziehbar ist. Beispiele dafür finden sich überall in der Trilogie. In der Mitte von Ariagni, dem zweiten der drei Bücher und damit an zentraler Stelle der gesamten Trilogie, verirrt sich Manos Simonides in einem Elendsviertel in der Altstadt von Kairo, wo sich das heruntergekommene Haus befindet, in dem Ariagni mit ihrem Mann wohnt und in dem sie den am Kopf schwer verletzten Manos aufgenommen hat. Nach einem Rendezvous mit Michelle Rapescu verirrt sich Manos auf der Suche nach diesem Haus in den engen Pfaden und Sackgassen des Viertels: „Ich kam zu einem runden Platz, nicht größer als ein geöffneter Fallschirm. In der Mitte stand, unerwartet, ein kurzer Stumpf einer Palme, kopflos. Aber die Häuser drum herum drängten sich eng aneinander und ließen keine Passage. [...]. Die Sackgasse. Ich kehrte um. [...]. Begab mich nach Westen und ramponierte meine Jacke an den Wänden. Um durch den Spalt zu kommen. Richtig. Der kleine Weg verlief gerade und bog später ab, später wieder [...]. Ich drehte mich um und nahm die anschließende Passage. Ich kam bei derselben Wand heraus. Wieder zurück. Die Gasse war kaum drei Finger breiter als die anderen, der Erdboden ebenso uneben, nur sorgfältiger gekehrt. So lange irrte ich umher, aber jetzt hatte ich das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein.“ Aber Manos täuscht sich, er ist nicht auf dem richtigen Weg, und er findet aus dem Labyrinth nicht heraus, unfähig, dessen Anlage und Struktur zu erkennen. Doch nur für den Fremden ist „das Labyrinth“ ein Labyrinth, für die europäische Imagination, nicht für die Araber, die darin wohnen, und auch nicht für diejenigen wie Ariagni, die in Kairo leben und in diesem Viertel ihr Zuhause haben. So ist es schließlich auch Ariagni, die Reinste aus Naxos, auch Ariadne genannt, jene mit dem Faden, oder die Shakespeare’sche Ariachne, die Manos herausführen wird: „An jenem Nachmittag holte mich Ariagni aus dem Labyrinth. Der akustische Telegraf des Viertels war wie das Tam-tam des afrikanischen Dschungels und informierte sie, dass ihr Gast, der mit der Narbe, seit Stunden versucht, sich durch die Gassen zu kämpfen.“ Durch die Kunst von Stratis Tsirkas entfaltet das Labyrinth eine beklemmende physische Präsenz und wird zugleich zum Sinnbild für die Irrungen und Wirrungen von Manos, für seine emotionalen und politischen Unzulänglichkeiten.

[...]

Tsirkas´ Hauptwerk erschien vor einem halben Jahrhundert. Ist das Buch gut gealtert? Nach einer so langen Periode des Friedens und der Sattheit in Europa mag es für den deutschen Leser schwierig sein, sich mit den Problemen der griechischen Widerstandsgruppen im Nahen Osten während des zweiten Weltkrieges zu identifizieren. Aber wenn wir an den Kosovo denken, an Syrien, Irak oder den Sudan, dann haben sich die Widerstandsbewegungen und das außerordentlich komplizierte Leben im Untergrund nicht grundsätzlich verändert, sind vielmehr strukturell bis heute gleich geblieben. Zum historischen Hintergrund des Romans genügt es zu wissen, dass Griechenland im April 1941 vor der deutschen Wehrmacht kapitulierte und der griechische König und sein Kabinett − nach einer Zwischenstation auf Kreta − nach Ägypten flüchteten. Der Hafen von Alexandria wird zur Zufluchtsstätte für flüchtende griechische Marineeinheiten und Handelsschiffe. Parallel zu den wechselnden Exilregierungen in Kairo bilden sich antifaschistische und demokratische Splittergruppen innerhalb der griechischen Bodentruppen und auch innerhalb der griechischen Zivilisten heraus, die in Ägypten leben. Alle diese Fraktionen kämpfen mit den Briten gegen Rommel und gegen die von den Briten unterstützten griechischen reaktionären Politiker, befehden sich aber auch untereinander. Der Sieg der Briten in El Alamein am 24. Oktober 1942 und die deutsche Niederlage in Stalingrad drei Monate später bringen den Wendepunkt im zweiten Weltkrieg. Churchill hält zu dem griechischen König, bezeichnet den griechischen Widerstand als „einen Haufen Banditen“ und wirft den griechischen Brigaden Feigheit vor dem Feind vor. Im Juni 1943 werden die beiden Brigaden zu einem Marsch durch die syrische Wüste gezwungen, den viele Kämpfer nicht überleben. Nach einer Revolte im Hafen von Alexandria und ihrer Niederschlagung mit britischer Hilfe ergibt sich im April 1944 die griechische Flotte mit der Erklärung: „Wir sind im Krieg gegen Hitler, nicht gegen unsere Alliierten.“ Auch die erste griechische Brigade, festgehalten in der libyschen Wüste, ergibt sich den britischen Truppen. In Moskau beschließen Churchill und Stalin, dass Griechenland britische Einflusszone auch nach Kriegsende bleiben soll. Nach der Befreiung Athens und Piräus´ bricht zwischen Royalisten und linken Gruppierungen in Athen ein monatelanger Bürgerkrieg aus.

Dies ist in großen Zügen die historische Bühne, auf der Tsirkas´ Romanfiguren agieren. Das Kriegsgeschehen grundiert ihre Handlungen und Gefühle wie ein Basso continuo. „Ein volles Haus hatte der Krieg geleert. Niemals mehr würde es so sein, wie vorher“, heißt es gegen Ende des Romans. Aber das erzählerische Genie von Tsirkas stattet seine Figuren mit solcher Dringlichkeit aus, dass das zeitverhaftete Grundgerüst immer wieder transzendiert wird. Steuerlose Städte ist ein Roman, der uns alle angeht. Er vermittelt mehr als eine Ahnung von den Kämpfen um Freiheit in finsteren Zeiten und auch von der Vergeblichkeit dieses Kampfes. Wenn wir ihn zu Ende gelesen haben, wissen wir sehr viel mehr über das Verhältnis von Widerstand und Repression, von Liebe und Krieg, von Hoffnung wider alle Hoffnung.

Joachim Sartorius