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25.05.2016

Sotiris Dimitriou: Lass es dir gut gehen

Sotiris Dimitriou: Lass es dir gut gehen

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verlassen Alexo und ihre jüngste Schwester Sofia ihr griechisches Dorf an der albanischen Grenze, um nach Nahrung zu suchen. Sofia schafft den Rückweg nicht mehr und muss bei Verwandten in einem Nachbarsdorf überwintern – kurz darauf wird die Grenze zwischen Griechenland und Albanien hermetisch abgeriegelt, Sofia für immer von Ihrer Familie getrennt. Fast vierzig Jahre später kann ihr Enkel zusammen mit vielen weiteren Flüchtlingen die Grenze illegal überwinden…

Der Roman von Sotiris Dimitriou, Lass es dir gut gehen (übersetzt von Birgit Hildebrand, 1998/2016) beschreibt das aktuelle Flüchtlingsdrama ebenso wie das Leben dreier Generationen an der Grenze zweier Welten. Der Historiker Marios Papakyriakou, der an der FU Berlin zum Thema der griechischen Migration in das koloniale Ägypten promoviert hat, nimmt Dimitrious Roman zum Anlass für einen Essay über die griechische Migrationsgeschichte.

Marios Papakyriakou: Sind wir (noch immer) alle Migranten?

Europa, einschließlich Griechenland, letzteres wegen seiner geographischen Lage in einem noch höheren Maße, erlebt derzeit die Folgen einer großen humanitären Krise, die mit dem massenhaften Ankommen von Migranten verbunden ist. Viele dieser Migranten beanspruchen den Flüchtlingsstatus, da sie aus Kriegsgebieten kommen oder aus Ländern mit Regimen, die ihre politischen Gegner hart verfolgen. Es wurde sogar vorgeschlagen, dass die Bezeichnung 'Flüchtling' für alle Migranten benutzt werden sollte, um ihre Herkunft aus Kriegszonen zu verdeutlichen, und so ihren Flüchtlingsstatus zu betonen. Nach der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 gelten Menschen als Flüchtlinge, wenn sie ihr Heimatland aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Herkunft und/oder aufgrund ihrer sozialen, politischen oder religiösen Überzeugungen verlassen müssen. Einer einfacheren Definition zufolge, sind Flüchtlinge Migranten, denen die Rückkehr zu ihrem Herkunftsort aufgrund einer erhöhten Gefahr für Leib und Leben verwehrt bleibt.

Es stellt sich die Frage, ob irgendein Problem damit gelöst wäre, unter den aktuellen Umständen alle Migranten als 'Flüchtlinge' zu bezeichnen, oder ob hierdurch nicht vielmehr die imaginäre Gefahr des 'Anderen' auf diejenigen Migranten ausgedehnt wird, die nicht aus Kriegsgebieten gekommen sind, d.h. auf diejenigen die, laut dem Klischee, gekommen sind, um der 'einheimischen' Bevölkerung ihre Arbeitsplätze und Sozialleistungen wegzunehmen. Es stellen sich aber auch noch andere Fragen, zum Beispiel bezüglich der mehr oder weniger flexiblen Ansichten eines jeden Staates und der internationalen Organisationen hinsichtlich der juristischen Anerkennung von Personen als 'Flüchtlingen'. Ist es zum Beispiel immer klar, wer ein Asyl-Berechtigter ist, wenn man bedenkt, dass die Kriterien hinsichtlich der Wichtigkeit einer Krise sowie hinsichtlich der Furcht davor und der Unmöglichkeit der Rückkehr häufig gar nicht objektiv sind? Und ohne die furchtbaren Situationen eines Krieges herunterspielen zu wollen: Stellen dessen drohende Verfolgungen wirklich immer einen so viel wichtigeren Fluchtgrund dar als eine zerfallene Wirtschaft, eine ökologische Katastrophe, ein Bankrott, Korruption und politischer Missbrauch? In wie weit ist jemand wirklich frei, zum Herkunftsort zurückzukehren, wenn es an Chancen und Aussichten einer wirtschaftlichen Tätigkeit in der nahen und sogar in der ferneren Zukunft fehlt, ganz unabhängig von der Existenz eines konventionell anerkannten Krieges?

Sotiris Dimitrious Roman Lass es dir gut gehen verbindet drei unterschiedliche Zeitpunkte der Migrationsgeschichte. Erzählt wird die Geschichte zweier Schwestern griechischer Herkunft, die sich am Ende des 2. Weltkrieges in der Region und zu Beginn des griechischen Bürgerkrieges beidseits der griechisch-albanischen Grenze befinden, sowie die Geschichte des Enkels einer der beiden Schwestern, der Anfang der 1990er Jahren bei der großen Migrationswelle aus Albanien nach Griechenland einwandert. Es ist nicht klar, ob alle Migranten dieses Buches als 'Flüchtlinge' bezeichnet werden können, ob sie alle jede Möglichkeit zur Rückkehr verloren haben. Jedenfalls haben sie die Vorurteile auf beiden Seiten der Grenze erfahren, verschiedene Notsituationen durchgemacht, den Krieg, die Intoleranz gegenüber ihrer ethnischen Herkunft, den Aufstieg und Fall eines unsicheren politischen Regimes nach den Kriegen, sowie die daraus folgenden ökonomischen Schwierigkeiten. Somit verhandelt Dimitrious Roman eben jene Komplexität, die oben zur Beschreibung des Migrationsphänomens angedeutet wird.

Neuere griechische 'Diaspora' und 'Migration'

In der griechischen Öffentlichkeit sowie in der Historiographie zur neueren griechischen Migration wird häufig eine Differenzierung zwischen 'Diaspora' und 'Migration' vorgenommen. Theoretisch beschreibt der Begriff 'Diaspora' die Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft, die an verschiedenen Orten der Welt zerstreut sind, ohne dabei ihre materielle, kulturelle und emotionale Bindung zu dem Land ihrer direkten oder älteren Herkunft zu verlieren. 'Migration' hingegen ist eher mit der heutzutage üblichen menschlichen Mobilität verbunden, weniger mit irgendwelchen Bindungen einer Gemeinschaft von Menschen zu einem bestimmten Ort direkter oder älterer Herkunft.

Grosso modo lässt sich die neuere griechische Migration in vier Phasen einteilen. Die erste Phase beginnt nach der Staatsgründung Griechenlands im Jahr 1830 und dauert ungefähr bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Literatur zu dieser Periode befasst sich schwerpunktmäßig mit den Errungenschaften der 'Diaspora', besonders der 'Wohltäter', der großen und 'erfolgreichen' Händler, und deren 'Kosmopolitismus', egal was das im jeweiligen Zusammenhang bedeuten mag. Geographisch gesehen ist die 'Diaspora' dieser Periode hauptsächlich mit Orten am Mittelmeer und am Schwarzen Meer verbunden.
Die zweite Periode erstreckt sich von der vorletzten Jahrhundertwende bis zum Anfang der Nachkriegszeit 1945. Dominant in dieser Phase ist die massive transatlantische Migration, vor allem in die Vereinigten Staaten. Meistens werden die damals sehr bevölkerungsreichen griechischen Gemeinschaften des Mittelmeeres ohne weiteres als 'Wohltäter' und 'Kosmopoliten' betrachtet, jedenfalls als ein Phänomen, das sich radikal von der transatlantischen Migration unterscheidet.
Die Nachkriegszeit bis zum Ende des Kalten Krieges ist eine dritte Phase; ihre Hauptmerkmale sind der Rückgang und die allmähliche Auflösung der traditionellen Gemeinschaften sowie die Erweiterung der massiven griechischen Migration, zum Beispiel nach Australien und in verschiedene europäische Länder. Unter diesen befindet sich auch Deutschland. So nahm die BRD seit den 1960er Jahren Zehntausende von griechischen 'Gastarbeitern' auf, während viele linksgerichtete Griechen nach dem Ende des griechischen Bürgerkrieges in die DDR gingen.
Eine vierte Phase begann in den 1990er Jahren, in denen Griechenland selbst zu einem wichtigen Einwanderungsland wurde, auch wenn für den größten Teil der Migranten, inklusive der aktuell dort ankommenden Flüchtlinge, Griechenland nicht das Endziel ist; denn viele von ihnen schaffen es aus unterschiedlichen Gründen nicht, weiter zu ihrem Endziel oder anderswohin zu fliehen.

Ein Thema, das in der Literatur über die griechische Migration oft unterschätzt wird, zumindest bis in die letzten Jahre, ist das des 'Misserfolges'. Denn auch wenn es nicht um die Erzählung von 'kosmopolitischen' Händlern ging, hielt man es meistens für selbstverständlich, dass die griechischen Migranten durch harte und ehrliche Arbeit sowie mithilfe des berühmten griechischen 'daimonio' (einer Mischung von List und Kreativität) wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Fortschritt erzielten. So befassen sich nur wenige Texte mit Misserfolgen in den unterschiedlichsten Bereichen des ökonomischen und sozialen Lebens, mit erfolglosen Wanderungen und Abenteuern, oder mit denjenigen Griechen, die es zwar 'geschafft' hatten, dies aber nicht dem griechischen 'daimonio', sondern eher illegalen Machenschaften verdankten.

Außer dem schematischen Bild von der menschlichen (griechischen) Mobilität muss man also auch die geographische und wertende Gegenüberstellung von 'Diaspora' und 'Migration' hinterfragen. Die Differenzierung zwischen einer selbstverständlich erfolgreichen 'Diaspora' und einer neueren und 'problematischen' Gruppe von Migranten stimmt nicht mit den historischen Quellen überein und resultiert keinesfalls aus der unterschiedlichen Geographie. Nicht immer schreiben Geschichten der griechischen Migranten, die während des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in verschiedene Regionen der heutigen Türkei und des östlichen Mittelmeers einwanderten, eine ruhmvolle 'Diaspora'-Narration fort. Die verbreitete Tendenz der griechischen Historiographie, sie dennoch überwiegend als gesetzeskonforme, kosmopolitische und erfolgreiche Europäer darzustellen, spiegelt vor allem die Überzeugung von der angeblichen Überlegenheit des 'Westens' wider bzw. den Bedarf der Griechen, sich selbst als Teil dieses Westens zu definieren. Man versteht, dass einstmals die Migration grundsätzlich als ein jüngeres Phänomen gelten konnte, das sich nicht mit dem 'Nationalraum' der nationalen Historiographie verbinden ließ. Dasselbe gilt auch für die Wanderungen zwischen Albanien und Griechenland.

Griechenland und Albanien

Der Roman von Sotiris Dimitriou wurde 1993 geschrieben, nachdem die Grenze zwischen Griechenland und Albanien offen stand und albanische Migranten, sowohl griechischstämmige als auch ethnische Albaner, massiv nach Griechenland kamen. Dimitriou selbst wurde 1955 in Thesprotia geboren, auf der griechischen Seite der Grenze zu Albanien, lebte aber später in Athen. 1987 wurde er erstmals für seine Kurzgeschichten prämiert. Als Schriftsteller hatte er sich schon mit der internen Migration beschäftigt, das heißt mit der Wanderung innerhalb Griechenlands, vor allem in Richtung Athen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, direkt nach dem Ende des griechischen Bürgerkrieges. Lass es dir gut gehen war sein erster Roman, er wurde nominiert für den Europäischen Literaturpreis und war die Vorlage für den Film Apo to chioni (Aus dem Schnee) von Sotiris Goritsas inspiriert, einen Film über die albanische Migration nach Griechenland, der ebenfalls 1993 erschien. Eben damals wurde die Migration aus Ländern des östlichen Europa stark thematisiert, sowohl in Griechenland als auch im restlichen Europa.

Während des „langen neunzehnten Jahrhunderts“ war die Abgrenzung zwischen Griechen und Albanern nicht selbstverständlich. Es gab zum Beispiel mehrere albanischsprachige Migranten außerhalb des Balkans, die auch Griechisch sprechen konnten, und tatsächlich war die griechische Sprache eine lingua franca, die den Zugang zu den berühmten griechischen Handelsnetzwerken ermöglichte. Andererseits waren viele Griechen voreingenommen gegen Leuten, die Albanisch sprachen. Für die Albaner in Griechenland, die zunehmend als 'Arvanites' beschrieben wurden, wurde die Diglossie oder sogar Hellenophonie, jenseits praktischer Gründe zu einem Kennzeichen des kulturellen und sozialen Aufstiegs. Mit dem Aufkommen eines albanischen Nationalismus um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert, und vor allem nach der Gründung eines unabhängigen albanischen Staates im Jahr 1913, wurden die verschiedene Szenarien, die bis dahin den Anschluss von osmanischen Gebieten mit einer großen albanischen Bevölkerung an Griechenland oder die Bildung einer griechisch-albanischen Föderation vorgesehen hatten, in den Bereich der Theorie verbannt.

Die Grenze zwischen Griechenland und Albanien, blieb unabhängig von aktuellen Netzwerken und sozialen oder finanziellen Beziehungen bis zu den 1940er Jahren äußerst durchlässig. Der griechisch-italienische Krieg Ende 1940, als der griechische Gegenangriff Teile des italienisch besetzten Albanien erreichte, löste sie anfangs sogar noch mehr auf. Am Ende des kriegerischen Jahrzehntes jedoch, als nach der deutsch-italienisch-bulgarischen Okkupation und dem griechischen Bürgerkrieg rechte Parteien in Griechenland an die Regierung kamen und in Albanien die kommunistische Partei, und als dann beide Länder in entgegengesetzten Bündnissystemen des Kalten Kriegen landeten, sollte sich dies radikal ändern. Die sonderbare Isolierung Albaniens dauerte mehrere Jahrzehnte und endete mit dem Zusammenbruch des politischen Regimes und der Öffnung der Grenzen des Staates im Jahr 1990, als viele seiner Einwohner meist in Italien oder in Griechenland eine bessere Zukunft suchten.

Im albanischen Staat gab und gibt es noch immer eine beträchtliche Gruppe von Menschen, die sich als Griechen bezeichnen. Gleichwohl wird die Wanderung zwischen heutzutage griechischen und albanischen Regionen oftmals unterschätzt. Ebenfalls verkannt werden die Schwierigkeiten des Migrationsprozesses über die griechisch-albanische Grenze, die, mutatis mutandis, vergleichbar mit denen anderer 'klassischer' Migrationsrouten sind. Zu beiden Themen, der Mobilität beidseits der Grenze genauso wie den Schwierigkeiten der Migration, liefert der Roman von Dimitriou einen eindrucksvollen Beitrag.

Das unkalkulierbare Wagnis der Migration

“Neue Schuhe […] Decken und Kupfersachen für den Tauschhandel […] etwas Birnbrot, ein paar getrocknete Feigen, einige Nüsse“. Mit diesen wenigen Vorräten beginnt das Wagnis der Migration im Buch von Dimitriou. Heutzutage kritisiert ein fremdenfeindlicher Teil der Öffentlichkeit sogar, dass manche der Menschen, die aus Kriegsgegenden geflohen sind, moderne Handys besitzen. Aber zu jeder Epoche nahmen die Leute, die aus ihren Heimatort auswandern wollten oder mussten, die wichtigsten Dinge mit, um die Schwierigkeiten des Abenteuers bestmöglich zu bewältigen. Was aber notwendig ist, kann, abhängig von der historischen Periode und dem wirtschaftlichen Zustand eines Ortes, unterschiedlich sein.

Am wichtigsten für das Wagnis ist wohl die Information des Migranten über den Ort, zu dem man gelangen will; eine Information, die jedenfalls nicht zu jeder Zeit die gleiche für alle ist. In den 1990er Jahren etwa 'wussten' die Migranten aus Albanien im Buch von Dimitriou durch das Fernsehen, dass die Leute in Griechenland 'das Beste vom Besten besaßen', wobei die politische Leitung des Landes während des Kalten Krieges ihnen sagte, dass dies Lügen wären: „die Menschen stürben dort auf den Straßen vor Elend“. Auch in der Zeit von Facebook ist es nicht immer klar, ob die Leute, die nach Europa kommen oder sich innerhalb von Europa bewegen wollen, immer die gleichen und wirklich zuverlässigen Informationen besitzen.

Verschieden sind auch die Informationen über die jeweilige Lokalbevölkerung, besonders dann, wenn die Migranten die Vorstellung einer gleichen Herkunft haben, die ihre Aufnahme vereinfachen könnte. Doch auch von Menschen gleicher Sprache werden die Migranten manchmal, unabhängig von Herkunft oder Papieren, negativ aufgenommen, natürlich auch weil die einheimische Bevölkerung um die eigenen Arbeitsplätze sowie sinkende Löhne fürchtet. Es ist ein Misstrauen, das möglicherweise auch zu Streitigkeiten führt, über die eine der Personen aus Dimitrious Roman äußert: „die waren ja im Recht, wir aber auch“. Es gibt mehr Probleme und Anlässe für Spannungen als arbeitsbedingte- und ökonomische Streitigkeiten. In Zeiten der Krise und der wachsenden Unsicherheit bleiben viele Türen sogar für Frauen geschlossen, die, wie in den 1940er Jahren, „hungrig, barfuß, verängstigt“ waren, bevor eine andere Frau ihnen Essen und einen Platz zum Schlafen bot. Jenseits aller Unsicherheit und allen Unwillens gab es aber eben doch manchmal auch Solidarität; manchmal in einer Kleinigkeit des einfachsten menschlichen Verhaltens, wie zum Beispiel dem Geschenk eines Fahrscheins für den Bus, begleitet von einem kurzen Gespräch und einem Lächeln; oder dem solidarischen Verhalten von Zigeunern, die den Frauen Essen, einen Platz zum Schlafen, und sogar geeignete Schuhe für das Wandern im Schlamm anboten.

Öfter aber werden Migranten nicht nur Opfer von Ausbeutung, sondern auch von Verbrechen, wie zum Beispiel, wenn ihnen, wie im Buch von Dimitriou, die Ersparnisse gestohlen werden. Dann wieder handeln die Migranten auch selber gesetzlos, denn solche Leute gibt es natürlich, wie wir auch aus Dimitrious Buch erfahren, sowohl im Einwanderungsland Griechenland als auch in Albanien. Derartiges Verhalten führt womöglich zu einer zurückhaltenden oder sogar feindlichen Reaktion. Die Frage ist, ob es eine einfache Solidarität und ein menschlich freundliches Verhalten geben könnte, unabhängig von einem migrantischen Hintergrund des Täters oder des Opfers?

Gender ist eine weitere Dimension des Romans, denn auch wenn Migration in manchen Phasen ein primär männliches Phänomen war, spielen manchmal Migrantinnen eine Hauptrolle, wie in Dimitrious Erzählung. Manchmal begegnen die Frauen hier männlicher Gewalt, der sie auf teilweise abenteuerliche Weise entkommen müssen; und das in einer Zeit, als die Möglichkeiten der Kommunikation und der Suche nach Hilfe sehr beschränkt und Reisen von Frauen ohne männliche Begleitung kaum selbstverständlich waren. Das galt selbst dann, wenn sich ihre Männer nicht am Krieg beteiligten oder in Übersee waren, sondern etwa als „fahrende Kesselflicker“ in Zentralgriechenland arbeiteten. Denn Migration gibt es nicht nur über weite Distanzen hinweg, sondern auch innerhalb eines Staates oder zwischen naheliegenden Regionen, unabhängig davon, ob diese durch Grenzen voneinander getrennt sind oder nicht.

Die Grenze

In der Erzählung von Dimitriou zerreißen manche Migranten aus Albanien, sobald sie die Grenze zu Griechenland überquert haben, in ihrer Begeisterung alle ihre albanischen Papiere, um eine Rückführung zu erschweren. Auch wenn diese symbolische Geste ein Zeichen für die Überquerung der Grenze und die Entschlusskraft dieser Migranten darstellt, sollten wir uns daran erinnern, dass die 'Papiere', ebenso wie die Grenze nur eine relative Bedeutung haben. An einer anderen Stelle der Erzählung sind die 'Papiere' wichtig, denn sie machen die Migranten während einer Kriegsperiode weniger verletzbar durch die bewaffneten Gruppen der Grenzpässe. Seit Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Verwendung von Reisepapieren zur allgemeinen Verpflichtung wurde, um die menschliche Mobilität zu kontrollieren, haben die 'Papiere' gleichzeitig einen rettenden und einen repressiven Charakter, denn mit ihnen können den Migranten entweder verschiedene Möglichkeiten eröffnet oder aber auch verschlossen werden.

Die Grenze, als Ergebnis von Kriegen und Verhandlungen, ist nie selbstverständlich oder identisch mit dem natürlichen Siedlungsraum der Menschen und den Bedürfnissen ihrer Gesellschaften. Weder war sie jemals undurchlässig noch war es jemals möglich, dass Staat und Nation gemäß dem Ideal des Nationalismus irgendwo völlig zur Deckung kamen. Menschen, die wir (in Griechenland) als 'Unsrige' zu bezeichnen gewohnt sind, vielleicht sogar als biologische Verwandte, mochten auf beiden Seiten der griechisch-albanischen Grenze leben – einer virtuellen Grenze in Zeiten, in denen es „weder Drahtzaun noch Militär“ gab und die Menschen die Grenze alltäglich oder regelmäßig überquerten, etwa als Saisonarbeiter. Jedenfalls ist die menschliche Mobilität ein viel älteres und breiteres Phänomen als die Migration von einem Nationalstaat zu einem anderen.

Die am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts allgemeine Tendenz zur Betonung der 'Hybridität' und der Ausbildung einer dritten Identitätsform durch Migration kann als Reaktion auf Tendenzen der vorherigen Jahre gedeutet werden, Identitäten als etwas Stabiles und Exklusives anzusehen, die den Migranten keine Wahl jenseits von 'Repatriierung' oder Assimilation lässt. Andererseits ist es interessant zu sehen, wie nicht nur die Zugehörigkeitsgefühle der Menschen historisch geprägt und unaufhörlich verhandelt werden, sondern auch wie sich die Migration auf dieses Phänomen auswirkt; das gilt zum einen für die Protagonisten, die möglicherweise nicht als Zugehörige einer bestimmten Gemeinschaft angesehen werden, zum anderen für die Staaten, die auf verschiedene Arten versuchen, von den Neuankömmlingen und von der Dynamik der 'Diaspora' zu profitieren.

Auf der anderen Seite sind Grenzen nicht bedeutungsgleich mit geographischen Grenzen zwischen Staaten. In unserem Fall ist eine Person, selbst wenn sie als Mensch griechischer Herkunft wahrgenommen wird, noch längst nicht allen Mitgliedern der nationalen Gemeinschaft willkommen. Die Frage ist, in wie weit die wachsende menschliche Mobilität dazu beitragen könnte, den Nationalismus zu überwinden.

Auch wenn durch die Entwicklung der Verkehrsmittel die Bedeutung der Distanz relativiert wurde, empfindet man als Migrant Fremdheit, egal ob der Staat, in dem man lebt, jemanden als 'Stammesgenosse' versteht, oder nicht. “In der Fremde. Im Elends-Athen und im Elends-Deutschland“, heißt es im Text von Dimitriou, ohne dass die verschiedenen Migrationsdestinationen voneinander unterschieden würden. Abgesehen von Papieren, materiellen oder ideellen Verbindungen zwischen den Migranten und dem Land, aus dem sie kommen, können sie je nachdem akzeptiert oder weiter als Fremder wahrgenommen werden, in unserem Falle also als Grieche in Albanien oder als Albaner in Griechenland, ein doppelter Fremder. Die Grenze hat eben nicht nur eine legale und territoriale Bedeutung, sondern auch eine soziale und kulturelle. Die Flüchtigkeit und /oder die Destabilisierung der Identitätszuschreibungen bedeutet demzufolge nicht, dass sie nicht mehr relevant wären, oder niemals existiert hätten, sondern erinnern uns an deren Grenzen; was der realistischen Erzählung von Dimitriou oftmals gelingt.

Erfolg in Griechenland wie auch in andern Ländern hatte dieser Roman vor allem durch seinen Stil. Außer ins Deutsche wurde das Buch auch ins Englische und Niederländische übersetzt. Die deutsche Übersetzung, die 1998 beim Romiosini-Verlag erschien, war in kurzer Zeit vergriffen. Das griechische Original wird seit seiner Erscheinung immer wieder neu aufgelegt, zuletzt 2015 in einer neuen Ausgabe, was für das neuerlich intensivierte Interesse für Migrationsthemen spricht. Der griechische Stil ist stark vom epirotischen Dialekt beeinflusst, was das Buch lebendig und volksnah erscheinen lässt, ohne mit verstümmelten oder protzigen Ausdrücken den Leser zu belasten und ohne die Spontaneität der Dialoge einzuschränken. Durch den Einsatz dialektaler Ausdrücke wurde versucht, diese Eigenschaft auch in der deutschen Übersetzung beizubehalten. Die Sprache ist einfach und vermeidet Verbalismen; die kurzen Erzählungen der Protagonisten der drei Geschichten vermitteln den Eindruck der Direktheit. Auf diese Weise schafft es das Buch, das Interesse des Lesers durch den Erzählrhythmus aufrecht zu erhalten und die ausgedehnte Darstellung der Migration auf dem Balkan im kurzen zwanzigsten Jahrhundert in einem lebendigen Erzählstil erfahrbar zu machen. Es führt uns vor Augen, dass es sich bei den Protagonisten dieses Wagnisses nicht um Zahlen, sondern – zuallererst – um Menschen handelt.

Marios Papakyriakou zum Roman Lass es dir gut gehen von Sotiris Dimitriou,
in der deutschen Übersetzung von Birgit Hildebrand, Berlin, Edition Romiosini, 2016.