#Lesestoff
25.05.2016
Costas Simitis, Premierminister 1996-2004 und Ehrensprecher der CeMoG Lecture #03, war nicht nur einer der wichtigsten Reformpolitiker Griechenlands seit 1974, sondern ist ein europäischer Bürger par excellence. Er begleitete aktiv die europäische Entwicklung, ist ein guter Kenner der internen Prozesse der europäischen Politik und ein polyglotter Gelehrter und Autor, der an verschiedenen europäischen Universitäten gelernt und gelehrt hat. Aus seiner Autobiographie Lebenswege (Δρόμοι ζωής, Athen 2015) lesen Sie hier das Kapitel „Studium in Deutschland“ in deutscher Übersetzung.
Auszug aus Simitis' Autobiographie Lebenswege (2015): Studium in Deutschland
Ich habe Jura studiert. Ich hatte keine anderen Vorlieben, die mich hätten zögern lassen. Ich schätzte den Beruf meines Vaters. Er war lebendig, verknüpft mit produktivem Schaffen, vielseitig, und brachte ihn in stetigen Kontakt mit vielen verschiedenen Menschen. Dennoch störten mich das Anwaltsein im ständigen Dienst privater Interessen sowie die Tatsache, dass im konservativen Griechenland Anwälte regierten. Sie hatten eine standardisierte Denkart durchgesetzt, die alles übersah, was im echten Leben passierte. Ich interessierte mich für Soziologie und Politikwissenschaft, aber mir war klar, dass es sich als außerordentlich schwierig herausstellen würde in diesen Gebieten später Arbeit zu finden. Unter den politischen Bedingungen, die an den griechischen Universitäten herrschten, war eine akademische Laufbahn ausgeschlossen.
Ich studierte an der Marburger Universität in Deutschland. Mein Bruder studierte dort bereits seit 1952 Jura. Wir studierten im Ausland, da unser Vater zurecht annahm, dass unsere juristische Ausbildung deutlich besser sein würde, aber, hauptsächlich, weil man es uns in Athen aus politischen Gründen schwer gemacht hätte, wie es später auch tatsächlich passierte. Deutschland war eine notwendige Wahl. Das griechische Privatrecht wurde auf der Grundlage des deutschen Modells gestaltet. Die Art zu denken, die Argumentationsweise, die Urteile - sie folgten dem deutschen Vorbild. Diese Verwandtschaft war damals viel stärker als heute.
Marburg war eine hübsche, kleine Studentenstadt nördlich von Frankfurt a. M. Sie hatte während des Krieges nur wenige Schäden erlitten. Die Städte mit den großen Universitäten hatten sich in Ruinenhaufen verwandelt. Als ich Frankfurt zum ersten Mal besuchte, gab es Straßen in denen man nur Schutt sah. Das Zentrum war eine tote Gegend. Die Marburger Universität wurde im 16. Jahrhundert gegründet. Sie war und ist bekannt für die theologischen und philosophischen Studien, die sie anbietet. Seine berühmtesten Professoren waren, Anfang der 50er, der Philosoph Martin Heidegger und der Theologe Rudolf Bultmann, Autor einer Jesusbiographie auf der Basis historischer Fakten.
Die Universität war das Zentrum der Stadt. Die Studenten waren mehr oder weniger gezwungen sich nur mit ihrem Studium zu beschäftigen, das strengen Regeln folgte. Bestimmte Professoren waren bemüht ihre Studenten kennenzulernen und verfolgten ihre Entwicklung. Der Unterricht war mit Abfragen und substanziellen Aufgaben verbunden. Besonderes Gewicht lag auf den Seminaren, in denen Themen des aktuellen Zeitgeschehens diskutiert wurden. Ziel war die kritische Teilnahme des Studenten. Die damals, an der Athener juristischen Fakultät, verbreitete Abfrage auswendig gelernten Wissens wurde nicht angewandt. Die bloße Reproduktion der Inhalte der Lehrbücher war gar ein Zeichen dafür, dass der Student das Wesentliche nicht verstanden hatte.
Abgesehen von den Pflichtstudienfächern konnte man als Student auch wirtschaftliche oder politikwissenschaftliche Fächer besuchen. Der bekannteste Professor auf diesem Gebiet war Wolfgang Abendroth. Er gehörte zur Linken der Sozialdemokraten. Während der Nazizeit war er in einem Konzentrationslager inhaftiert. Gegen Ende des Krieges schickten sie ihn zusammen mit anderen Gefangenen nach Griechenland. Er floh und wurde Mitglied der Griechischen Volksbefreiungsarmee ELAS. Nach dem Kriegsende kehrte er zurück nach Ostdeutschland, war aber mit dem kommunistischen Regime nicht einverstanden. Er kam nach Marburg. Er war eine umstrittene Persönlichkeit. Weder die konservativen Professoren, noch aber die Sozialdemokraten oder Kommunisten mochten ihn. Er aber beharrte auf seine Standpunkte und sein Unterricht war sehr interessant. Dank seiner Erlebnisse zeichnete er ein sehr lebendiges Bild der politischen Wandlungen der damaligen Zeit. Als er meinen Bruder kennenlernte, lud er ihn unverzüglich zu sich ein, denn seine Erinnerungen an Griechenland waren noch frisch. Er wollte sehen, wie dieser Grieche war, der in seiner Nähe studierte. Wir standen mit ihm in Kontakt und er wurde zu unserem ständigen Unterstützer. Ich lernte damals einen Typ Intellektuellen kennen, den es in Griechenland nicht gab: den von Ideologien distanzierten, politisch liberalen, der gegen jede Form von Unterdrückung kämpfte.
Die Politik hatte keine sichtbare Präsenz im Studentenleben, aber auch allgemein war das Universitätsleben nicht von politischen Entwicklungen bestimmt. Die Studentenwahlen beschäftigten nur einen kleinen Kreis der Studenten. Aber auch bei den Bundestags- u.a. Wahlen nahmen an den Versammlungen nicht mehr als dreihundert Personen teil. Dieser Anblick war für die Griechen absolut ungewohnt. Sie konnten nicht verstehen, warum sich die Deutschen nicht für die Politik interessierten. Die deutschen Studenten wollten aber so schnell wie möglich arbeiten, um der Misere zu entkommen, die ihnen der Krieg hinterlassen hatte. Sie verbanden die Politik mit Krieg, dem Ost-West Konflikt, den Gefahren. Sie mieden die Politik. Sie war in Bezug auf ihre berufliche Eingliederung etwas Zweitrangiges. Keiner wollte über die die Nazi-Vergangenheit reden. Es gab Studenten, die gerade aus der Gefangenschaft in der Sowjetunion wiedergekehrt waren, viele Blinde und Kriegsversehrte, die damals ihr Studium begannen.
Meine einzige politische Aktion war das Organisieren einer Veranstaltung zum Zypernkonflikt. Mich unterstützten griechische Studenten und die Jugendorganisation der Sozialdemokratischen Partei. Es war ein für die Universität absolut unübliches Ereignis. Redner war Abendroth. Der Erfolg war groß.
Ich beendete das Studium 1959 mit meiner Promotion zum Thema Gute Sitten und ordre public. Ein kritischer Beitrag zur Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB (Marburg 1960). Dort versuchte ich zu zeigen, dass die Anwendung der allgemeinen Klauseln des Zivilrechts zur Regelung der Nichtigkeit eines Vertrages von den vorherrschenden Ansichten der Gesellschaft bestimmt wird. Demnach wird ihr Inhalt nicht durch einen Prozess „rechtlicher Interpretation“ bestimmt, sondern von „gesellschaftlichen Forderungen“. Meine Ansicht war für die damalige Zeit relativ radikal, stößt heute aber wohl breitere Akzeptanz. Der Rechtspositivismus war damals vorherrschend. Die Rolle der gesellschaftlichen Ansichten bei der Anwendung des Rechts wurde nicht anerkannt.
Ich habe außerordentlich hart dafür gearbeitet, dass ich mein Studium und meine Doktorarbeit innerhalb von fünf Jahren abschloss. Das Militär hatte sich, wegen der bekannten politischen Gründe, geweigert mir einen Aufschub des Militärdienstes zu genehmigen. Ich unterbrach, für fast zwei Jahre, jegliche Teilnahme am außeruniversitären Studentenleben. Es gab natürlich auch nicht viele Möglichkeiten zum Vergnügen. Ich fand die abendlichen Anstürme auf die Kneipen wohl langweilig. Meine Erinnerungen an die Studienzeit haben hauptsächlich mit diesem angespannten Versuch zu tun, der sich aber in einem freien und zivilisierten Umfeld vollzog, ohne dass man von der Polizei überwacht oder von den Professoren verabscheut wird.
Ich empfinde meine fünf Studienjahre als Schule der Unabhängigkeit, in denen ich meine Probleme selbst in die Hand nahm, Entscheidungen traf und mein Leben bestimmte. Ich betrachte sie ebenfalls als wertvolle Jahre, denn ich konnte die griechische Gesellschaft mit einer anderen vergleichen, konnte verstehen warum wir ein introvertiertes, unterdrückendes Land blieben, mit begrenzten Möglichkeiten. Ich reiste, besuchte Unternehmen und Fabriken, sprach damals und auch später mit Gewerkschaftlern, Unternehmern, Politikern. Ich sah, dass eine Wirtschaft mit großer Produktion Netze der Verständigung webt und eine Vielzahl an Möglichkeiten schafft.
Entwicklung wird durch die freie Nachfrage gefördert und von Institutionen gestützt, die die Gegensätze lindern und die offene Gesellschaft begünstigen. Die Gegenwart und die Zukunft können von Bürgern mit unterschiedlichen Ansichten gestaltet werden, durch Kontroversen, aber nicht zwingend Feindschaft, fernab einer Mentalität der Ächtung Andersdenkender, mit der Bereitschaft zur Diskussion, sodass ein gemeinsamer Punkt der Kooperation gefunden wird.
Das hohe zivilisatorische Niveau der deutschen Gesellschaft bereits seit dem 16. Jahrhundert, die geistige Entwicklung des 19. Jahrhunderts, die etwa ein Jahrhundert andauernden sozialen Kämpfe der Arbeiterbewegung, hatten Traditionen und Verhaltensmuster geschaffen, einen Rahmen für die Freiheit des Einzelnen, aber auch die Pflichten gegenüber des gesellschaftlichen Ganzen. Es gab natürlich auch gegenläufige Tendenzen: das autoritäre System der preußischen Tradition, der Nationalismus, das Gefühl der Überlegenheit gegenüber anderen, ärmeren und weniger organisierten Völkern. Diese wurden drastisch in der Nazizeit geäußert. Aber die Nazizeit hatte nicht die gesammelten Erfahrungen einer bürgerlichen Gesellschaft mit humanistischer Tradition und einer Arbeiterklasse, die wusste wie man für soziale Gerechtigkeit kämpft, auslöschen können. Ich realisierte, dass die Mentalität, die damals Griechenland kennzeichnete, eine Folge der wirtschaftlichen Rückständigkeit, der gesellschaftlichen Unterdrückung und der skrupellosen Instrumentalisierung der Institutionen durch den herrschenden rechten Flügel zu seinem Vorteil war. Von Deutschland aus betrachtet, sah Griechenland wie ein sehr verstricktes Wollknäuel aus, das viel Zeit und Mühe beanspruchen würde, um es zu entwirren. Während meines Studiums reiste ich nach Ostdeutschland. Die Unterschiede waren offensichtlich, nicht nur auf den Lebensstandard bezogen sondern auch auf das Verhalten der Menschen. Sie waren zurückhaltender, fast verängstigt. Sie trugen eine unsichtbare Last mit sich herum, den Freiheitsmangel, den sie nie ansprachen. Ich traf mich mit Professor Achilleas Papapetrou, der zusammen mit meinem Vater von der Universität entlassen worden ist. Er war ein offener Mensch und mutig bei der Verteidigung seiner Ansichten. Er arbeitete dort an der Universität, weil er keine zufriedenstellende Arbeit in Griechenland gefunden hatte. Er kritisierte die herrschende politische Situation in Ostdeutschland stark. Er sah, dass es aufgrund des Dogmatismus der Kommunisten in eine Sackgasse lief. Er sagte vorher, dass die Menschen immer häufiger versuchen würden in den Westen zu fliehen, wie es auch passiert ist. Er selber arbeitete später in Paris, wo er Vorsitzender des Nationalen Zentrums für wissenschaftliche Forschung (CNRS) wurde. Später besuchte ich erneut Ostdeutschland, dann als Anwalt. Die Berliner Mauer hatte die Teilung gefestigt. Der Lebensstandard war stark gestiegen. Ich fühlte aber, dass meine Gesprächspartner durchgehend zurückhaltend waren. […] Sie hatten Angst davor, sich ausversehen zu Abenteuern verleiten zu lassen. Sie waren freundschaftlich, manchmal gar herzlich, aber durch ihre Haltung bekundeten sie, dass sie aufpassen mussten, dass es keinen Schutz vor willkürlicher Verfolgung gab. Der „Realsozialismus“ war eine Gesellschaft der Angst. Eine solche Gesellschaft formt keine freien und kreativen Menschen.
Später, als Ministerpräsident, nahm ich an einem Gipfeltreffen der Länder der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation in Moskau teil. Griechenland war ein Mitglied der Kooperation, wie auch viele Länder, die früher im Einflussbereich der Sowjetunion lagen. Gastgeber und Repräsentant Russlands war der damalige Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin. Das Bankett begann nach seiner Ansprache. Im Anschluss an diese standen nacheinander die Ministerpräsidenten der ehemaligen Ostblockstaaten auf, lobpreisten ihn, sprachen schmeichelhaft über Russland und tranken auf sein Wohl. Nachdem die „Zeremonie der Lobpreisungen“ beendet war, begannen wir in absolutem Stillschweigen zu essen. An andere Umgangsformen gewohnt, wandte ich mich an meinen Nachbarn, den Ministerpräsidenten und ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Aserbaidschans, mit einer freundschaftlichen Frage allgemeiner Natur. Er antwortete mir schroff, dass wir nach dem Essen reden könnten worüber ich wollte. Ich verstand, dass die offiziellen Bankette der Sowjetzeit ein Art Gottesdienst waren, mit Hauptanliegen der Huldigung des Offiziellen und absolutem Schweigen, sodass nicht ausversehen ein negativer Eindruck entstehen konnte. Bei einem anderen Treffen der Schwarzmeer-Wirtschaftskooperation, während eines freundschaftlichen Gesprächs, erwähnten die Präsidenten Bulgariens und Rumäniens mir gegenüber, dass sie, obwohl während des kommunistischen Regimes aufgewachsen, kein Russisch sprächen, und das als Zeichen ihrer antikommunistischen Haltung. Wenig später stellte ich fest, dass beide fließend Russisch mit dem russischen Ministerpräsidenten sprachen, an den sie sich besonders respektvoll wandten. Die Vergangenheit, von der sie sich lossagten, um einen guten Eindruck auf mich zu machen, war sehr lebendig und ließ sie janusköpfig erscheinen.
Aus: Κώστας Γ. Σημίτης, Δρόμοι ζωής, Athen, Polis Verlag, 2015.
Übersetzt von Nikolaos Kaissas