#Lesenswert
04.10.2018
Bei diesem Text könnte es sich auch um einen unserer offenen Briefe handeln: Die Historikerin und Prosaautorin Lena Divani verfasste im Auftrag des Projekts "Europa - Ein Geschichtenschatz", das die lit:potsdam im Sommer 2018 durchführte, einen Text über Dido Sotiriou und speziell über den Roman Lebewohl, Anatolien. Daraus wurde eine literarische Liebeserklärung an eine Lebefrau und politisch aktive Intellektuelle, die die männerdominierte literarische und politische Szene ihrer Zeit aufmischte. Übrigens: sowohl Lebewohl, Anatolien wie Der Auftrag, zwei der wichtigsten Romane dieser besonderen Autorin, sind bei der Edition Romiosini erhältlich.
Η ιστορικός και συγγραφέας Λένα Διβάνη έγραψε ένα κείμενο για τη Διδώ Σωτηρίου και τα Ματωμένα χώματα κατόπιν παραγγελίας του Φεστιβάλ Λογοτεχνίας του Πότσνταμ, το οποίο αναδημοσιεύουμε.
Lebewohl, Anatolien
und der ewige Sonnenschein Dido Sotirio
Der Roman Lebewohl, Anatolien (1962), aus dem ich das letzte Kapitel gewählt habe, ist vielleicht der meistgelesene und symbolhafteste neugriechische Roman seit der Geburt des griechischen Staates. Auf einem kleinen Markt, auf dem für gewöhnlich die Höhe einer Auflage nicht mehr als 1.000-5.000 Exemplare und selten 100.000 Exemplare für Superbestseller überschreitet, tanzt der Roman Sotirious, mit mehr als 420.000 verkauften Exemplaren, aus der Reihe. Er wurde zudem in sehr viele Sprachen übersetzt und ausführlich an den Schulen Griechenlands behandelt. Der Roman gehört jetzt zum kollektiven Gedächtnis der Griechen, ist die griechische Version von Krieg und Frieden. Der Hauptgrund dafür ist sein Thema, das an das nationale Trauma Nr. 1 anknüpft: das tragische Erlebnis der kleinasiatischen Griechen, die nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gewaltsam aus ihrem Geburtsland gerissen wurden. Zu dieser Zeit unternahm Griechenland mit dem Zuspruch der Entente den Versuch, Smyrna, eine weltbürgerliche Küstenstadt Kleinasiens mit einem starken griechischen Charakter, einzunehmen. Diese Handlung wurde von den unterlegenen Türken als radikaler Angriff gewertet und der Zorn darüber beflügelte ihren Nationalismus und ihr Selbstbewusstsein. Diese Tatsache in Verbindung mit den falschen militärischen und politischen Entscheidungen der Griechen und dem Seitenwechsel der Entente, die sich kurzzeitig mit Kemal Atatürk verbündete, führte zur Niederlage des griechischen Militärs durch die türkischen Nationalisten, zum Brand von Smyrna und zur vollständigen ethnischen Säuberung der Griechen von türkischem Boden. 1.200.000 ruinierte Menschen kamen mit Schiffen, Boten, zu Fuß oder schwimmend im ebenso ruinierten und bankrotten Griechenland an, welches sich schwertat, die Ankömmlinge zu integrieren. Das Mutterland erwies sich als Stiefmutter.
Ein zusätzlicher Grund für die große Beliebtheit des Romans ist seine Volkstümlichkeit und seine flüssige Erzählweise, zugänglich für alle, Groß und Klein, Gebildete und weniger Gebildete. Die Autorin ist eine Frau, geboren in Kleinasien und Opfer der Katastrophe. Sie weiß genau, worüber sie schreibt. Sie war 13 Jahre alt, als sie mit einem Boot nach Piräus kam. Trotz alledem entschied sie sich erst im Alter von 50 Jahren, dieses Trauma in einem Buch niederzuschreiben. Es ist nicht einfach, über so angsteinflößende Erlebnisse zu sprechen, solange sie noch frisch im Gedächtnis sind. Es braucht Zeit, um das Erlebte zu verdauen, um das Gedächtnis zu beruhigen, damit es sich in Worte verwandeln kann. Das Gleiche sahen wir bei den Juden Thessalonikis, die in den Konzentrationslagern ausgerottet wurden, aber trotzdem mehrere Jahrzehnte schwiegen. Sotiriou wählt weise einen männlichen Erzähler für ihren Roman, eine reale Person, die nicht nur all die schrecklichen Ereignisse der Katastrophe miterlebt hat, sondern auch Tagebuch darüber führte. Die Autorin selbst wurde als Mädchen weder in eines der Arbeitsbataillone (Amele Taburları) eingezogen noch wurde sie auf die Schlachtfelder geschleppt. All diese Dinge hörte und erlebte sie selbst nur indirekt, bevorzugt aber die Kraft des direkten Erlebnisses. So nimmt sie den wertvollen Rohstoff, der vor Authentizität nur so sprüht, und verwandelt ihn in einen robusten, realistischen Roman mit vielen Sittenschilderungen. Sie beginnt mit einer überschwänglichen Abbildung des einfachen, harten, aber sonnenbeschienenen Lebens der griechischen Dorfbewohner Kleinasiens, die friedlich mit den türkischen Bauern zusammenlebten, und endet mit der Schilderung des allgemeinen Blutvergießens des Krieges. Die Sprache des Romans ist auch ein Beweis für seine Authentizität, denn Dido verwendet den kleinasiatischen Dialekt, der voll von türkischen Wörtern ist. Griechen und Türken lebten zusammen und das zeigt sich in ihrer Sprache.
Der Protagonist, Manolis Axiotis, ein armer Bauernjunge, erzählt, wie der Krieg ihn aus seinem Zuhause und von seiner Familie riss und ihn in die Tiefen Anatoliens warf, um den Terror in den osmanischen Arbeitsbataillonen zu erleben. Er zwang ihn zu fliehen, um zu überleben und zum Eintritt in das griechische Militär, das ihn gemeinsam mit seinen Begleitern an die Front schickte, als er nach Smyrna kam. Letztlich zog er ihn zurück in das brennende Smyrna, um, nach allem, was er erlebt hatte, schwimmend gerettet werden zu können. «Lebewohl, Anatolien» bleibt schmerzhaft aktuell. Das Schicksal von Manolis ist kein anderes als das Schicksal der Flüchtlinge auf der ganzen Welt. Bei denselben Inseln, auf denen damals die kleinasiatischen Griechen um Rettung baten, ertrinken heute die syrischen Flüchtlinge im Meer. Das Leben zieht sehr seltsame Kreise, um uns nicht vergessen zu lassen, dass wir alle unter der gleichen Sonne leben und unser Glück ein gemeinsames ist.
Dieses Buch hat niemanden ungerührt gelassen – auch nicht die Türken, die Lebewohl, Anatolien liebten und massenweise lasen. Der Grund dafür ist einfach: Sotirious Blick ist gelassen. Sie hasst die Türken nicht, denn mit ihnen erlebte sie eine märchenhafte Kindheit in dem Dorf, in dem auch der Held ihres Buchs wohnte – im wunderschönen Kirkinca bei Aydın, nahe dem historischen Ephesos. Die Schuld für die Kleinasiatische Katastrophe gibt sie nicht der gegenseitigen Rivalität der beiden Völker, sondern den imperialistischen Plänen der Großmächte, der nationalistischen Erhebung der Türken, den schicksalshaften Fehlern der Außenpolitik Griechenlands, der Ausbeutung der Türken durch griechische Spekulanten usw. Dido Sotiriou ist links und richtet sich niemals gegen das Volk – auch nicht gegen das türkische, von dem sie sehr geliebt wurde. Es ist tatsächlich bemerkenswert, dass sie 1983 in der Türkei mit dem Preis der griechisch-türkischen Freundschaft, dem Abdi-İpekçi-Preis, ausgezeichnet wurde, noch bevor ihr Werk offiziell in Griechenland anerkannt wurde.
Bei Dido Sotiriou handelt es sich um eine ganz besondere, einzigartige Erscheinung in der griechischen Literaturgeschichte. Zuerst einmal war sie eine Schriftstellerin in einer Zeit, in der nur wenige Frauen eine Karriere als Schriftstellerin einschlugen. Dieser Beruf war männlich dominiert. Die Literaturkritik reagierte zunächst gleichgültig, zuweilen auch abweisend auf ihre Texte, vor allem bevor «Lebewohl, Anatolien» veröffentlicht wurde. Sie selbst ließ sich von all dem nicht beirren. Zudem, war sie schon früh und sogar sehr aktiv in die Linke integriert und wusste, dass dies kein gutes Vorzeichen in manchen literarischen Kreisen war. Auf der anderen Seite wurde diese Frau auch von mutmaßlich Gleichgesinnten nicht anerkannt. Sie passte nicht in die konservativen Schubladen, in die Menschen – sogar freischaffende Künstler – von der kommunistischen Linken dieser Zeit gesteckt wurden. Sie war unermüdlich, fröhlich, eine Feministin, zärtlich, erotisch und versuchte gar nicht erst, den äußeren Schein zu wahren. Sie lebte gemeinsam mit ihrem Ehemann Platon, Dozent der Mathematik, der sie vergötterte, ihr half zu schreiben und nicht den Anschein erweckte, als störte er sich an ihren politischen und erotischen Abenteuern. Während sie arbeitete, kümmerte er sich um den Haushalt. Er kochte für sie und raubte so den Appetit der Anderen.
Dido jedoch, die 1909 geboren wurde und ein frohes, aber auch turbulentes 95-jähriges Leben lebte, war nicht wie die Anderen. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit den Griechinnen ihrer Zeit. Zu allererst traf sie die bewusste Entscheidung, keine Kinder zu bekommen. Sie hatte andere Prioritäten und so viel zu tun, dass sie auf kindliche Bedürfnisse nicht eingehen konnte. Sie konnte sich nicht im Haus einschließen und sich ausschließlich der Familie widmen. Reisen liebte sie sehr und schon bei der ersten Gelegenheit ging sie als Korrespondentin ins Ausland. Auf dem Kopf trug sie ein französisches Beret und Spazierfahrten machte sie mit ihrem Motorrad, mit Platon in dessen Sidecar. Sie unternahm Fahrten in die Berge, war Nudistin und verliebte sich immer wieder mit jugendlicher Leidenschaft. Kurz gesagt war sie eine starke Seele, die sich trotz Flucht und Krieg, der Vertreibung der Linken, der Gefangenschaft ihrer Schwester oder der Tötung ihres Schwagers, des berühmten "Mannes mit der Nelke" Nikos Belojannis, im harten Griechenland nach dem Bürgerkrieg nicht unterkriegen ließ. Dido Sotiriou hat buchstäblich die ganze Geschichte Griechenlands durchlebt. Jede einzelne ihrer Tragödien erlebte sie am eigenen Leib, der gut gelaunt in einen Pelzmantel gehüllt war und nach Parfüm roch. Alle, die Dido erlebten, berichten, wie sie jeden Tag zu den Besuchszeiten in das Gefängnis ging, in dem sie ihre Schwester gefangen hielten und riesige Bleche voll mit frisch gekochtem Essen brachte. Dabei war sie immer schick und elegant gekleidet, als würde sie zu einer Party gehen. Wenn sich jemand fragte und sie darauf ansprach, woher sie die Lust nahm, sich so anzuziehen und zurechtzumachen, um den Todestrakt des Gefängnisses zu besuchen, antwortete sie, dass sie es ihren geliebten Inhaftierten schuldig war, ihre Moral zu stärken, und dass sie ihre Verfolger damit aufregen wollte. Es ist wirklich verwunderlich, dass eine solche Frau bei der Zeitung der KKE, dem Rizospastis (Der Radikale), Akzeptanz fand – sie arbeitete dort als Journalistin, bis sie 1947 vom Organ entfernt wurde. Die Antwort ist: Sie verzauberte jeden, hatte eine Art an sich, mit der sie bei den unterschiedlichsten Gruppen von Menschen Anklang fand. Sie war ein frühlingshafter Charakter, der die Zukunft nicht fürchtete. Sie hatte eine bestimmte Art zu denken – sie verstand, dass alles vergänglich ist; nichts dauert ewig, aber ebenso verschwindet nichts für immer. Deswegen verschönerte sie nie die Umstände und trat ihnen realistisch entgegen, aber niemals mit Selbstmitleid oder Pessimismus. Ganz im Gegensatz: Waren die Neuigkeiten gut, dann fügte sie noch ein i-Tüpfelchen hinzu, um sie noch besser zu machen. Sicher aber war sie eine Fremde in der Partei. Diese nahm sie auf, weil sie sie brauchte: Dido war eine Weltbürgerin, hatte sehr nützliche Beziehungen in alle sozialen Schichten, sprach Fremdsprachen und hatte umfassendes Wissen über die europäische und weltweite Außenpolitik.
Aber genau das verwendete man gegen sie. Die Partei wollte sich an ihr rächen und ihr eine Falle stellen. Ende des Jahres 1946 fingen sie an, sie zu bekriegen. Schlussendlich verjagte sie der Generalssekretär der KKE, Nikos Zachariadis, endgültig, nachdem sie einen Artikel mit Analysen veröffentlicht hatte, die nicht von ihm abgesegnet worden waren. Dido verließ die Zeitung klagend und weinend, aber den Kopf hielt sie oben und wich nicht von ihrer Überzeugung ab. Bis an ihr Lebensende blieb sie engagiert – bereit, alles für die Menschen zu geben, die sie brauchten. Außerhalb der Partei fühlte sie sich freier, konnte besser atmen. Die stalinistische Partei hat, wie bekannt ist, viele Gemeinsamkeiten mit der Kirche. Die Opfergabe und die Trauer sind Bestandteile ihrer Ideologie. Ihre Schwester, Elli Papa, die kommunistischer und orthodoxer erzogen war, ließ sich z.B. ohne Betäubung die Zähne ziehen, um nicht aus Versehen ein Geheimnis der Partei auszuplaudern. Für Dido war diese Haltung unverständlich, sie stand eher auf der anarchistischen Seite des Lebens. Mit ihrem skandalösen Humor sagte sie etwa zu ihrem kleinen Neffen, dass es in der Partei als Vorzug gelte, Analphabet zu sein. Der Intellektuelle ist verdächtig, weil er denkt und anderer Meinung ist. Der Analphabet könne, selbst wenn er es wollte, nicht anderer Meinung sein, weil er sich nicht zu äußern wisse.
Dido selbst beschrieb in ihrem Roman einwandfrei ihren humanistischen Blickwinkel. Der Roman endet in Worten des Abschieds von der blühenden Welt, die sie gebar. Sie verabschiedet sich von ihr und bittet um Verzeihung, im Auftrag all der Menschen, die sie mit Blut beschmutzten.
Lena Divani
Übersetzung aus dem Griechischen: Sophia Alexandridis