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#Editorial

11.06.2019

Osterfest der Kirche Agios Dimitrios Loumbardiaris

Osterfest der Kirche Agios Dimitrios Loumbardiaris

Wie tiefgreifend ist der Einfluss der verschiedenen religiösen und theologischen Traditionen, die den griechischen und den deutschen Kulturraum zuweilen voneinander zu trennen scheinen? Größer, als wir angenommen haben, so der Religionswissenschaftler Vasilios N. Makrides. Ob es um die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst, die Weltbejahung oder die Wahrnehmung von Tradition geht, religionswissenschaftliche Betrachtungen helfen, beide Kulturen besser zu verstehen. Der Professor für Religionswissenschaft an der Universität Erfuhrt gab neulich darüber ein Interview in der griechischen Tageszeitung Kathimerini, das wir für Sie in deutscher Übersetzung veröffentlichen.

O Βασίλειος Ν. Μακρίδης, καθηγητής θρησκειολογίας (με ειδίκευση στον ορθόδοξο χριστιανικό χώρο) στη Φιλοσοφική Σχολή του Πανεπιστημίου Erfurt, έδωσε πρόσφατα συνέντευξη στην Καθημερινή (27.05.2019) για τη συμβολή της θρησκειολογίας στην κατανόηση των διαφορών ανάμεσα στους δύο πολιτισμούς.

Die sozialen Konsequenzen der theologischen Unterschiede zwischen Ost und West

Welche Relevanz hat die Theologie?

Die zuweilen unterschätzte und vernachlässigte Auseinandersetzung mit theologischen Begriffen ist eine Grundvoraussetzung – freilich nicht die einzige – für das Verständnis diverser soziopolitischer Prozesse wie etwa der Entstehung der modernen westeuropäischen Kultur. Hierin liegt auch der wesentliche Beitrag von Max Weber: Was ihn interessierte, war der Einfluss religiöser Ideen auf das soziale Handeln und zwar unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. So versuchte Weber in einer Zeit, in der das westeuropäische Christentum scharf kritisiert wurde, zu zeigen, dass die damalige, stark säkularisierte Gesellschaft und Lebensführung eigentlich eine ursprüngliche religiöse Basis hatten (so in seiner berühmten Studie Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus). Weber fokussierte auf die sozialen Auswirkungen der protestantischen Theologie (wie etwa die Individualisierung, die Weltbejahung, die Historizität, die Pflicht, die Verantwortlichkeit), die sich parallel zur Moderne artikulierte. Später untersuchte er auch die Römisch-Katholische Theologie und Kultur unter diesem Aspekt, und dasselbe wollte er auch mit dem Orthodoxen Christentum tun. Leider kam ihm sein früher Tod zuvor.

All dies mag für ein westeuropäisches Publikum vertraut klingen, nicht aber für ein griechisches.

Viele Thesen von Weber wurden später kritisiert, doch sein Forschungsparadigma bleibt nach wie vor attraktiv und wird noch in vielen Bereichen weltweit angewandt. Eigentlich sind seine Thesen nicht unbekannt in Griechenland. Jedoch stieß die Auseinandersetzung mit solchen Themen von Anfang an auf inhärente Schwierigkeiten des griechischen Milieus, die vor allem mit der – historisch gesehen – starken Ideologisierung der Ost-West-Beziehungen zu tun haben – was sich nicht gerade fördernd auf eine nüchterne Beurteilung der ganzen Angelegenheit auswirkte. So bemühte sich etwa die orthodoxe Welt stets darum, ihre Selbstgenügsamkeit und Überlegenheit gegenüber dem „gefallenen und häretischen Westen“ zu beweisen; dabei kapselte sie sich für lange Zeit in eigenen Gewissheiten ein und bestand auf eine introvertierte Betonung ihrer glorreichen Vergangenheit. Insbesondere nach dem Ende des Ikonoklasmus um 843 und der Institutionalisierung der „Orthodoxie“ als der einzig wahren christlichen Lehre gibt es ein Problem in der Entwicklung des orthodoxen Diskurses, weil die Tradition oft zu einem starren Traditionalismus transformiert wurde. Die Vergangenheit ist für die Orthodoxie wichtiger als die Gegenwart und die Zukunft und gilt zudem als absolut verbindlich, was man nicht für den Protestantismus behaupten kann.

Schwaben ist für die sparsamen Hausfrauen bekannt, die einen teuren Nerzmantel unter einem ausgetragenen Hemd tragen sollen. Welchen Zusammenhang gibt es zwischen dieser Mentalität und dem Protestantismus?

Es gibt in Deutschland viele Anekdoten über die „schwäbische Hausfrau“ als Beispiel für einen sparsamen Haushalt. Selbst die Kanzlerin Angela Merkel, die übrigens aus einer protestantischen Familie kommt, bezog sich darauf, als sie über die griechische Finanzkrise sprach. Die Frage ist, ob die altbekannte Sparsamkeit in Deutschland als alltäglicher Automatismus oder als Langzeitplanung – sowohl auf der kollektiven als auch auf der individuellen Ebene – einen protestantischen Ursprung hat. Man kann selbstverständlich nicht alles durch die Theologie erklären, es gibt aber möglicherweise einen Zusammenhang zu der protestantischen „innerweltlichen Askese“ nach Weber; d.h. dass man zwar in der Welt selbst verankert ist, doch man freiwillig auf die verschiedenen weltlichen Lebensgenüsse verzichtet – genauso wie ein Asket/Mönch, der in der Regel außerhalb der Welt lebt. Die deutsche Wirtschaft ist in der Tat eine der stärksten weltweit, doch die Art und Weise, in der Staat und Bürger bemüht sind, Ausgaben zu reduzieren und immer nach der günstigsten Lösung zu suchen, ist berühmt. Und es geht um ein Land, das historisch stark von der Reformation geprägt wurde, was zuletzt durch die großen Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr 2017 deutlich wurde.

Wie verständlich ist uns Griechen ein solches Handeln?

Nicht besonders, denn wir kommen aus einer anderen christlichen Tradition und Kultur. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Lösungen, die Deutschland für die Bekämpfung der tiefen Wirtschaftskrise im Lande vorschlug, etwa die strikte Austeritätspolitik, bei uns mit Hohn und Spott aufgenommen wurden. Es gibt sicherlich große Meinungsunterschiede in Bezug auf dieses Thema, doch ein Grieche kann sehr schwer protestantisch denken. Solche Differenzen gibt es auch im Westen, denn die protestantischen Länder unterscheiden sich schließlich auch untereinander. Die Frage für Griechenland ist nicht, ob wir jemanden nachahmen sollen, sondern was wir von anderen zu lernen und was wir – bis zu einem gewissen Grad – umzusetzen in der Lage sind, selbstverständlich immer kritisch und konstruktiv.

Sie finden, dass wir nicht so fähig zu einer kritischen Auseinandersetzung mit uns selbst sind. Hat dies auch mit der Theologie zu tun?

Auch in diesem Punkt gibt es möglicherweise einen historischen Zusammenhang. Ein deutscher Forscher und bester Kenner der griechischen und lateinischen Kirchenväter wies darauf hin, dass Augustinus im fortgeschrittenen Alter ein Werk mit dem Titel Retractationes verfasste, in dem er sich selbst korrigierte und kritisch betrachtete. Ein ähnliches Werk fand er jedoch nie in der griechischen patristischen Literatur! Dies ist kein Zufall und hat wohl mit der lateinischen christlichen Tradition, ihrem juristischen Fundament und den sonstigen damaligen soziopolitischen Verhältnissen zu tun, die eine kritische Haltung zu den jeweiligen Entwicklungen förderten. Im Westen beginnt schließlich viel früher der Individualisierungsprozess, der mit einer selbstkritischen Haltung einhergeht. Ein Standardwerk wie Augustinus’ Confessiones, das entscheidend dazu beigetragen hat, fehlt ebenfalls gänzlich in der Literatur des orthodoxen Ostens.

Wie erklären Sie sich das Unbehagen vieler griechischer Gelehrter und Wissenschaftler, sich mit religiösen Angelegenheiten zu beschäftigen?

Früher war es ja aus ideologischen Gründen noch schlimmer, nach 1989 hat sich aber die Situation wesentlich verbessert. Profane Gelehrte und Wissenschaftler erachteten die Theologie (und den Bereich Religion im Allgemeinen) stets als unwürdig für eine systematische Erforschung. Alles, was mit Religion zu tun hatte, galt als obskurantistisch sowie rückschrittlich und war negativ konnotiert. Doch Weber, der es getan hat, war kein Theologe, sondern Soziologe. Es ist bemerkenswert, dass Griechenland heutzutage möglicherweise das einzige EU-Land ist, an dessen Universitäten noch immer keine von der konfessionellen Theologie unabhängigen religionswissenschaftlichen Institute existieren, an denen diverse Religionen, einschließlich der christlichen, unter verschiedenen soziologischen, psychologischen, anthropologischen oder anderen Aspekten untersucht werden könnten. Das ist inzwischen sogar in den ehemaligen kommunistischen Ländern gängige Praxis. Dies ist leider ein Ausdruck griechischer Provinzialität und Isolierung vom internationalen Geschehen.

Welche Rolle spielte dabei die berühmte „Neo-Orthodoxie“?

Der Begriff „Neo-Orthodoxie“ beschreibt eine nicht weiter organisierte oder institutionalisierte Bewegung von Intellektuellen und Künstlern aus verschiedenen Bereichen, die nach der Regierungsübernahme der PASOK-Sozialisten im Jahre 1981 erschienen und die eine authentische, griechisch-orthodoxe Tradition jenseits von westlichen Einflüssen zu entdecken und zu definieren versuchten. Unter ihnen gab es viele Linksintellektuelle, deren unerwartetes Interesse für die Orthodoxie wohl zur Etablierung dieses Begriffes geführt hat, auch wenn er von den Trägern dieser Bewegung selbst nie akzeptiert wurde. Das Phänomen war sicherlich nicht neu, auch andere orthodoxe Kulturen, etwa in Russland oder Rumänien, hatten versucht, eine eigene kulturelle Identität jenseits des Westens zu lokalisieren und zu propagieren. Diese Bewegung war durchaus interessant, weil sie auch Nicht-Theologen umfasste, war allerdings stark antiwestlich geprägt, was wiederum polarisierend und kontraproduktiv wirkte. Immerhin sieht es in den letzten Jahrzehnten so aus, dass sich im orthodoxen Denken etwas ändern und eine konstruktivere Beziehung zum Westen aufgebaut werden könnte.

Warum war die Weltbejahung in der orthodoxen Welt nicht verbreitet?

Das Ganze hat mit der Beziehung der Kirche zur säkularen Welt im Allgemeinen zu tun. In dieser Hinsicht kann man große Unterschiede zwischen Ost und West feststellen. In der Orthodoxie etablierte sich generell eine deutlich weltabgewandte und außerweltliche Orientierung. Dies kann man am Deutlichsten erkennen, wenn man einen Vergleich des östlichen orthodoxen Mönchtums mit den weltzugewandten Mönchsorden der Römisch-Katholischen Kirche unternimmt. Diese Orientierung hat viel mit dem speziellen Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Oströmischen Reich (Byzanz) zu tun, wo die weltlichen Angelegenheiten primär eine Aufgabe des Staates und nicht der Kirche darstellten. Im Unterschied dazu bekam die lateinische Kirche im Westen bereits sehr früh einen stark weltlichen Charakter, indem der Papst auch weltliche Macht besaß, was für den Osten undenkbar gewesen wäre. Zu dieser Weltbejahung und zunehmenden Weltbezogenheit der Kirche im Westen trug dann später die Reformation entschieden bei, zuweilen mit negativen Auswirkungen, insbesondere wenn diese Strukturänderungen zu einer Verweltlichung und Säkularisierung führten. Solche Unterschiede können einige Entwicklungen angemessen erklären wie etwa die sehr systematisch aufgebaute soziale Lehre und politische Theologie im westlichen Christentum, die im orthodoxen Osten bis heute sehr unterentwickelt geblieben sind.

Dr. Vasilios N. Makrides ist seit 1999 Professor für Religionswissenschaft (mit Schwerpunkt Orthodoxes Christentum) an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Kulturgeschichte und Soziologie des Orthodoxen Christentums, die Ost-West-Beziehungen in Europa, das Orthodoxe Christentum und die Naturwissenschaften, Religion und Moderne. Das Gespräch mit ihm führte Antonis Pangratis (Kathimerini, 27.05.2019).


Übersetzung: Kostas Kosmas