#Lesestoff
08.03.2017
Der Titel der Anthologie war 18 Texte (Δεκαοχτώ κείμενα). Was so nüchtern, distanziert und neutral klang, stand tatsächlich in einem ironischen Gegensatz zum Inhalt und war der bedeutendste Akt des literarischen Widerstands während der Militärdiktatur zugleich: 1969 war von den Militärs die vorbeugende Zensur aufgehoben – vorausgesetzt, die Publikationen kündigten keine politischen Kommentare an. Entsprechend lautete der Titel einer Sammlung mit Texten von 18 Autorinnen und Autoren, die 1970 publiziert wurde und subtil, aber unmissverständlich die politische Repression anklagte.
1973 gab Danae Coulmas auf Deutsch die Anthologie Die Exekution des Mythos... fand am frühen Morgen statt heraus, die dieses Buch als Grundlage hatte. Die Edition Romiosini wird sie nun anlässlich der fünfzig Jahre seit dem Ausbruch der Militärdiktatur in einer neuen, revidierten Ausgabe herausbringen; als Vorschau präsentieren wir die Beiträge von Thanassis Valtinos und Stratis Tsirkas – zweier Autoren, die wir bereits kürzlich in der Edition Romiosini publiziert haben bzw. bald publizieren werden.
Thanassis Valtinos: In Gips*
Sie legten mich auf einen Tisch mit Rollen. Dann zogen sie mich nackt aus. Um mir nicht weh zu tun, zerschnitten sie mir die Hose und die Unterwäsche mit einer Schere. Die Schwester sagte mir, man würde Röntgenaufnahmen machen. Sie war noch jung und fröhlich. Ich fragte sie, ob das eine neue Strapatze sein würde. »Nein«, sagte sie, »man wird Sie gar nicht bewegen.«
Sie machte die Türen weit auf, damit wir hindurchfahren konnten.
Das Labor war finster, und es dauerte einige Sekunden, bis meine Augen sich daran gewöhnten. Es roch nach Schimmel und verdunsteter Säure. Ich sah den Arzt, gepanzert hinter seiner bleiernen Schürze, die Instrumente vorbereiten. Er arbeitete gebückt und stumm. Nach einer Weile gab er der Schwester ein Zeichen, sich zu entfernen, und ein metallener Arm begann über meinen Körper entlangzubalancieren. Ich glaube, es müssen noch mehr Personen in dem Raum gewesen sein. Ich hatte den Eindruck, als würde hinter mir geflüstert, und ich drehte den Kopf, um mehr zu sehen. In diesem Augenblick, so, als hätte man gerade darauf gewartet, rief jemand: »Abfahren.« Es war nicht der Arzt. Ich hörte, wie ein Hebel gesenkt wurde, und gleichzeitig spürte ich, falls man das behaupten kann, wie die Strahlen mein Fleisch und meine Knochen durchdrangen.
Das geschah vier- oder fünfmal. Man machte Aufnahmen an den Knien, am Becken, am Brustkorb, am Schädel. Jedes Mal bewegte sich der metallene Arm mit einer erstaunlichen Sicherheit und Geschwindigkeit zur entsprechenden Stelle. Das ganze Verfahren dauerte nicht länger als drei Minuten. Am Ende sagte der Arzt: »In Ordnung.« Wir waren fertig. Seine Stimme hörte sich kalt und sachlich an, als ob er eine Anordnung erteilte. Sie drückte keine Befriedigung aus, keinerlei Emotion. Ich atmete erleichtert auf. Man öffnete die Tür, der Luftzug umfing mich, die Schwester brachte mich wieder in den Flur hinaus. Sie schob mich jetzt am Kopfende und ich konnte sie nicht sehen. Ich fuhr, die Füße voran, und sah nur die Wände des endlosen Korridors glatt und nackt an mir vorbeiziehen.
Schließlich kamen wir in einen niedrigen Raum, der unzureichend beleuchtet war. Es gab nur ein Fenster an der Schmalseite, ganz oben, vergittert und mit Panzerglas. Aus der Lage des Fensters und der Qualität der Beleuchtung schloss ich, dass wir uns im Halbsouterrain befinden mussten. Die Schwester schob mich in die Mitte des Raums, kreuzte die Arme vor der Brust und stellte sich mir gegenüber. Ich fragte sie, was als nächstes anstehen würde. »Sie werten jetzt die Aufnahmen aus«, sagte sie. »Ich nehme an, man wird gleich mit dem Eingriff beginnen.« Sie hatte nach wie vor den gleichen einnehmend freundlichen Ausdruck, ich stellte aber dennoch eine gewisse unmerkliche Veränderung in ihrer Laune fest. Ich befürchtete, dass der Anlass hierfür meine Fragen waren.
Ich hörte auf zu fragen und versuchte, mich auf der harten Fläche des Tisches zu bewegen. Ich spürte meinen Rücken wie eine Bogensehne auf ihr gespannt. Ich versuchte etwas zu rücken, und ein wilder Schmerz vom linken Oberschenkel aus stach mich plötzlich ins Herz. Ich biss die Lippen zusammen, um nicht zu schreien, die Schwester griff mit der einen Hand nach meinen Handgelenken, als wolle sie mich ruhigstellen, und legte die andere auf meine Stirn: »Beruhigen Sie sich«, sagte sie gütig, »Sie müssen ruhig sein. Es ist nicht gut für Sie. Sie tun sich so keinen Gefallen.« Ich begriff, dass sie recht hatte, und sagte es ihr. Mir war bewusst, dass jegliche Bewegung in dem Zustand, in dem ich mich befand, nicht nur vergeblich, sondern auch schädlich war. Sie begann meine Stirn zu streicheln, zärtlich, fast mütterlich. »Sie müssen Geduld haben«, fuhr sie fort, »Geduld. Die Lektion ist ein wenig schwer, aber in solchen Augenblicken müssen wir alle sie können.«
Ich ließ sie meine Stirn streicheln, es tat mir wohl. Ich brauchte Trost, und sie wusste das. Ich bin auch sicher, sie wusste, dass sie mich gebändigt hatte. Ich bat um ein Glas Wasser, ich hatte Durst. »Ich bringe es Ihnen sofort«, sagte sie. Sie ließ meine Handgelenke los, zog ihre Hand von meiner Stirn und ging hinaus. Kurz hörte ich das Klappern ihrer Absätze im Korridor, dann verhallte es.
Ich blieb eine ganze Weile allein. Während ich auf ihre Rückkehr wartete, tauchten die Ereignisse des Vormittags unwillkürlich ganz lebendig wieder in mir auf.
Der ohrenbetäubende Kompressor, die gähnenden Kloaken, der Bürgersteig mit den aufgerissenen Platten — dieser lächerliche Bürgersteig —, dann das Ausrutschen und in der Tiefe der Ohnmacht die Sirenen des Krankenwagens. Musste das gerade mir passieren? Ich verschluckte einen Fluch, und um die Wut, die in mir tobte, zu bändigen, fing ich an, mir den Raum anzuschauen.
Die Wände waren weiß gestrichen, mit einer abstoßenden, weißen Kunststoffarbe. An der rechten Ecke stand ein niedriger Glaskasten mit chirurgischen Instrumenten, und genau darüber war eine elektrische Uhr. Ich stellte mir den dritten Zeiger vor, wie er lautlos und unfehlbar seinen Kreis zog, aber der Lichtreflex im Plastikglas hinderte mich daran, die Uhrzeit zu erkennen. Ich hob den Arm, um auf meine eigene Uhr zu schauen und stellte zum ersten Mal fest, dass sie zerschlagen und stehengeblieben war. Ohne abergläubisch zu sein, hielt ich das für ein schlechtes Omen, und ich verspürte den unbändigen Wunsch, die Uhrzeit zu erfahren. Als hinge davon etwas ungemein Wichtiges ab. Ich blickte zum Fenster und versuchte, die Uhrzeit am Tageslicht zu messen. Aber das Licht hatte aufgehört, irgendeiner Veränderung zu unterliegen, wie vereist, aufgehängt an dieser Ecke, in diesem Panzerglas. Plötzlich spürte ich tief in meinem Inneren einen Anflug von Horror. Ich blieb ganz still, horchend, in der Hoffnung, irgendein Geräusch von draußen zu vernehmen. Dies war eine neue Entdeckung mit einer unmittelbaren Folge: In das Innere dieses Raumes drang von nirgendwoher ein Ton ein, und die Panik schoss in sukzessiven Wellen in mir hoch. Gerade in diesem Augenblick und bevor mir der Angstschrei entfuhr, trat die Schwester wieder in den Raum ein. Sie hielt tatsächlich ein Glas Wasser in der Hand, aber ich hatte nicht gehört, wie sie sich näherte, und in meinem Kopf nagelte sich der Verdacht fest, sie hätte wahrscheinlich hinter der Tür gelauert. Vielleicht merkte sie es an meinem Ausdruck. Ich sah, wie ihre Lider sich schnell auf und ab bewegten, ein wenig verlegen, aber sie gewann ihre Kontrolle gleich wieder. Mir waren wahrscheinlich die Schweißtropfen ausgebrochen, denn ohne das Glas hinzustellen, nahm sie aus ihrem Ausschnitt ein kleines, parfümiertes Taschentuch und wischte mir das Gesicht ab. Dann wollte sie mir zu trinken geben und hob vorsichtig meinen Kopf wie bei einem Baby. Ich weigerte mich zu trinken und sagte ihr, dass ich keinen Durst mehr hätte. Sie schien gar nicht beleidigt zu sein. Sie stellte das Glas in die hintere Ecke neben der Tür und trat wieder neben mich, wie das erste Mal. Etwas betrübt sagte sie nur: »Sie müssen Vertrauen zu mir haben.« Und gleich darauf, ganz dienstlich: »Die Ärzte kommen.«
Ich hörte ihre Schritte und das Rascheln ihrer Kittel, als sie den Raum betraten. Es waren zwei, und sie standen jetzt über mich gebeugt, die Hände auf dem Rücken; sie sahen mich eine Weile schweigend an. Sie waren gleich groß, etwas über Durchschnittsgröße und wahrscheinlich auch im gleichen Alter, das aber war schwer festzustellen, denn sie trugen Kappen und Chirurgenmasken. Von ihren Gesichtern waren nur die Augen zu sehen, sonst nichts. Ich wusste, dass ich keine offene Wunde hatte und diese Verkleidung beunruhigte mich. Vergessend, dass ich sie beleidigt hatte, falls meine Weigerung, Wasser zu trinken, eine Beleidigung gewesen war, sah ich die Schwester an, wenigstens bei ihr nach einem aufmunternden Zeichen suchend. Aber die Schwester war jetzt über den Kasten mit den Instrumenten gebeugt, und ich konnte nur ihre runden Hinterbacken sehen und einen Streifen nacktes Fleisch zwischen den, wie für Nekrophilen, weißen Strümpfen und dem Rocksaum. Dann hörte ich überhaupt auf, etwas zu sehen.
Jemand hatte auf einen Knopf gedrückt, und den Raum überflutete jetzt ein wildes, durchdringendes Licht, das wie ein Schneiden wehtat. Ich hob den Arm, um meine Augen zu schützen, sah die zwei und eine dritte Gestalt dazwischen, die sofort verschwand. Mir schien es auf einmal seltsam, dass ich vorher, allein mit der Schwester, meine Nacktheit gar nicht gespürt hatte. Jetzt, im blendenden künstlichen Licht und unter den prüfenden Blicken der Ärzte, fühlte ich meinen Körper exponiert und hilflos. »Ausgeliefert, in ihren Händen«, dachte ich und versuchte meinen Kopf auf der glatten Oberfläche des Tisches etwas besser zurechtzurücken. Ich drehte ihn zur Seite, um dem gleißenden Licht zu entgehen, und sah durch die halbgeschlossenen Wimpern, wie der eine der beiden, den Oberkörper etwas nach hinten gestreckt, die Röntgenaufnahmen, noch feucht von der Entwicklungsflüssigkeit, prüfte. Er hielt sie kurz gegen das Licht, warf einen eiligen Blick darauf und reichte sie dem anderen. Dann legten sie sie irgendwo hin, der zweite kam zu mir, fasste mich am Kinn und drehte mein Gesicht direkt zu sich. Genauso pflegte es mein Vater zu tun, als ich klein war, und durch eine völlig unsinnige Assoziation wartete ich auf die Ohrfeige. Stattdessen stützte er mit einer ganz raschen und erfahrenen Bewegung seine Daumen an meine Nasenwurzel, stülpte mir mit dem Zeigefinger die Augenlider gewaltsam um und prüfte ihre Innenseite. Er ließ sie gleich wieder los, und in einem Strudel von irisierenden Farben und dunklen Flecken hörte ich ihn sagen: »Wir können anfangen.« Es waren die ersten und für lange Zeit die einzigen Worte, die aus seinem Mund kamen. Als es mir gelang, die Augen wieder zu öffnen, machten sie sich bereits an meinen Beinen zu schaffen. Jetzt, da ich die Möglichkeit hatte, wenn ich den Nacken ein bisschen hob, ihnen zuzusehen, störte mich das Licht weniger. Sie arbeiteten schnell, schweigend, völlig synchron. Die Schwester, mit dem Rücken zu mir, hielt meine Fußsohlen in der Höhe ihrer Taille. Ihre Haltung kam mir etwas unnatürlich vor, sie hätte wunderbar ihre Arbeit auch mir zugewandt tun können. Ich dachte flüchtig, sie wolle meinen Blick vermeiden, und das beunruhigte mich ein wenig. Die Tatsache aber, dass ich bis zu diesem Augenblick, entgegen meinen Erwartung, überhaupt keinen Schmerz gespürt hatte, gab mir Mut. Ich sah die Hände der Ärzte sich sicher und flink bewegen, und trotz der Demütigung, die mich wegen ihres Verhaltens erfüllte, musste ich zugeben, dass sie ihre Arbeit gut machten.
Sie hatten bereits meine Unterschenkel mit Gipsband umwickelt — als schnürten sie sie in Wickelgamaschen aus dem Ersten Weltkrieg — und rückten unaufhaltsam höher. Die Erinnerung an den bohrenden Schmerz in meinem Oberschenkel ließ mich zusammenzucken; ich rechnete damit, dass nun der Augenblick bald kommen müsse, in dem die Qual beginnen würde. Ich hielt den Atem an und presste die Zähne zusammen, um die Welle des Schmerzes, die kommen würde, ertragen zu können, aber seltsamerweise geschah nichts dergleichen. Ich spürte nur die Finger des Arztes, die flüchtig meine Muskeln streiften, dann den Druck des Gipsbandes, das sich anschmiegte und die Haut presste, und ich muss gestehen, dass der Schauder einer undefinierbaren Erregung meine Wirbelsäule durchzog. Der Arzt muss es gemerkt haben, denn er unterbrach für einen Augenblick seine Arbeit, warf mir einen kurzen Blick zu und flüsterte etwas, was der andere kalt und ausdruckslos anhörte.
Probleme ergaben sich erst bei meinen Hüften. Selbst für mich, den Ahnungslosen, war es klar gewesen, dass, wenn das Bandagieren fortgesetzt werden würde — wenn das unbedingt sein musste —, es in jedem Fall nötig werden würde, meinen Oberkörper, auf welche Weise auch immer, von der Berührung mit der Tischplatte zu lösen. Mit krankhafter Neugierde und als sei nicht ganz und gar und unmittelbar ich selbst betroffen, wartete ich auf das, was kommen würde.
Die Ärzte hatten ihre Arbeit unterbrochen und sich zu einer Art improvisierter Beratung in eine Ecke zurückgezogen. Ich konnte sie nicht sehen, ich sah nur die Schwester, die weiterhin unbeweglich ihre Stellung beibehielt, meine Fußsohlen an ihrer Taille. Mir fiel die Linie ihres Nackens und ihrer gebeugten Schulter auf, und plötzlich verspürte ich Mitleid mit ihr. Der erste Eindruck, dass sie jung und fröhlich war, ist trügerisch gewesen. Sie war nichts als ein eingeschüchtertes und unterdrücktes Wesen, von einem unerfindlichen Willen zu Taten verurteilt, die sie verabscheute und die sie mit dem, was an Würde noch in ihr übriggeblieben war, zu erledigen suchte. Reue überkam mich, weil ich sie verdächtigt hatte, und ich wollte es ihr sagen, aber der Gedanke, dass so etwas eigentlich verboten sein müsse, hielt mich zurück. Ich versuchte, den Kopf dorthin zu drehen, wohin die Ärzte sich zurückgezogen hatten, es gelang mir aber nicht, sie zu sehen.
Ich spürte sie hinter mir, wie sie sich, aneinandergedrängt in der Ecke, mit Gesten und Zeichen verständigten. Nicht das leiseste Flüstern hörte man, und genau in diesem Moment durchfuhr mich wie ein Blitz die Angst, diese zwei dort hinten verschwören sich gegen mich, sie bereiten mein Verderben vor. Ich hatte noch nicht die Zeit gehabt, auf diese Angst zu reagieren, als sie es bereits gemerkt hatten; ich sah sie auf mich zustürmen. Sie ergriffen meine Arme, die noch frei waren, und eine weiche, aber unwahrscheinlich starke und trainierte Hand hielt mir den Mund zu. Ich spürte, wie der Ehering am Ringfinger in unerträglichem Druck meine Lippe auf die Zähne presste und mitten in diesem schneidenden Schmerz hörte ich ein Geräusch, wie eine Bank geschoben wurde, und den dumpfen Ton meiner Beine, die sie darauf stellten. Dann sah ich die Schwester mit einer riesigen Spritze in der Hand näherkommen. Sie hatte den Ausdruck einer betrübten Madonna, und es war nicht einmal nötig, mir den Arm mit dem Gummiband abzubinden. Durch den Griff, der mich festgenagelt hielt, waren meine Venen wie geschwollene dicke Schnüre. Sie beugte sich vorsichtig über mich, fand mit Leichtigkeit die richtige Stelle und stach zu. Ich spürte jene seltsame Flüssigkeit mit einer von der meines Blutes verschiedenen Temperatur in mich einströmen, und während ich wartete, dass die Spritze leer wurde, dämmerte ich ein.
Als ich wieder zu mir kam, hatten sie mich ganz in Gips gelegt. Über meinem Bauch und der Brust hatte sich eine schneeweiße flache Erhöhung gebildet, und die Form meines Beckens hatte sich unnatürlich vergrößert. Ich stellte mir vor, wie ich aussehen müsste, sebosus, mit prallen Hinterbacken, ein bisschen wie ein Kykladisches Idol, ein bisschen wie ein Astronaut im Raumanzug. Man hatte mir nur das Gesicht freigelassen, und vielleicht, weil ich jetzt ungefährlich und ganz in ihrer Gewalt war, hatten die Ärzte ihre Masken abgelegt. Der Schädel des einen war vollständig kahl und erinnerte mich an irgendetwas, mir gelang es aber nicht, herauszufinden, an was. Er hatte sich einige Schritte nach hinten entfernt, um sein Werk stolz zu bewundern, und das Lächeln auf seinem Gesicht glich einer tierischen Grimasse. Die Art, in der er sich streckte, veranlasste mich zu der Vermutung, er leide an einem Hohlkreuz. Der andere war immer noch über mich gebeugt, er zog Linien in der Gegend zwischen Brustbein und Nabel mit einer perversen Befriedigung in seinem paranoischen Blick. Mir kam der Gedanke, er skizziere obszöne Figurenkomplexe, und ich lächelte. Schließlich war es eine ideale Dekorationsfläche.
Als sie mich ansprachen, geschah es, glaube ich, nicht aus der Bereitschaft, mir Erklärungen zu geben. Bis jetzt hatten sie mich wie ein Objekt behandelt, doch in ihrem Innersten konnte vielleicht das Bedürfnis nach einer Bestätigung ihres Werkes durch mich selbst vorhanden sein. Es sprach derjenige mit dem Graphikertalent. »Es ist zu deinem Besten«, sagte er, »unsere Idee …«
Ich ließ ihn nicht fortfahren. Wenn auch zu spät, hatte ich begriffen, worum es ging. Ich sagte: »Trotz der großen Bewunderung, die ich Ihrer Geschicklichkeit zollen muss, werden Sie mir erlauben, meine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, dass es vollkommen unmöglich ist, dass Sie Ideen haben.«
Offenbar rechneten sie nicht mit meiner Frechheit. Ich sah ihre Gesichter sich in einer Mischung von Zorn und Betrübnis über meine Undankbarkeit verfinstern. Ich muss gestehen, dass ich, obwohl ich nichts Schlimmeres mehr befürchten konnte, Angst verspürte. Ich suchte mit dem Blick nach der Schwester. Sie stand an meiner Kopfseite und hielt eine Schüssel mit dem Rest des noch unbenutzten Gipses. Sie sah mich traurig an, mit einem wohlwollenden Vorwurf in den Augen, die mir Geduld einflößen wollten. Ich hatte kaum Zeit, noch etwas anderes wahrzunehmen; derjenige mit dem kahlen Schädel trat auf die Schwester zu, streckte den Arm nach der Schüssel aus und warf mir die erste Schaufel Gips in die Augen. Ich spürte das Brennen in meinen Augäpfeln, und genau in diesem Augenblick, mit dem letzten Lichtstrahl, sah ich die Ähnlichkeit, die mich seit langem quälte, nun klar. Der Arzt war derselbe Mann, der den Kompressor gehandhabt hatte. Ich wollte schreien, so brannte es, aber ich presste lieber die Zähne zusammen. Dann griffen zwei Finger, stark wie eine Zange, nach meinen Kiefern und drückten sie immer mehr auseinander, bis sie mich gezwungen hatten, sie zu öffnen. Ich spürte meinen Mund sich mit der dicken, wässerigen Masse des Gipses füllen. Sein Geschmack war nicht ganz so unangenehm, aber ich drohte bereits zu ersticken.
* Georgios Papadopoulos pflegt vom griechischen Volk als von einem Patienten zu sprechen, der zu seiner Heilung von den Ärzten — den Vollstreckern des Putsches vom April 1967 — in Gips gelegt worden ist.
Aus: Danae Coulmas (Hg.), Die Exekution des Mythos... fand am frühen Morgen statt,
in Vorbereitung, Edition Romiosini, 2017.
Originaltitel: Ο γύψος (1970).
Übersetzt von Danae Coulmas und Nonna-Nielsen-Stokkeby.
Stratis Tsirkas: Wetterwechsel
Zwei Mädchen gingen die Admiral-Pérez-Allee hinab. Im winterlichen Licht schlugen ihre schwarzen Stiefel gleichmäßig auf den Bürgersteig. Nichts in der Stadt erinnerte daran, dass man ihr plötzlich vor Monaten, mitten in der Nacht, die Freiheit genommen hatte. Damals schwieg der Rundfunk, das Telefon funktionierte nicht mehr. Die Gitarren wurden gleich danach weggeschlossen. Vorbei die Lieder, die Stadt verstummte. Tödliche Stille legte sich wie ein schwarzer Schnee auf alles. Ab und zu hörte man die Fliesen des Mosaiks auf dem Simon-Bolivar-Platz langsam zerbersten, paarweise, unter den Raupenketten der Panzer: ein grausiges Knarren, als schraube sich die Wirbelsäule eines Gehenkten auseinander.
Auf dem Bürgersteig konnten keine vier Leute nebeneinander gehen. Zwei Männer, Pakete unter dem Arm, kamen die Straße herauf. Sie zögerten einen Augenblick. Die Mädchen gingen außen um die Männer herum und schlossen sich hinter ihnen wieder zusammen, wortlos. Der Große ertappte die Dunkelhaarige dabei, wie sie ihm einen flüchtigen Blick zuwarf; das lange offene Haar der Blonden, das in der kalten Brise wehte, streifte zufällig seine unrasierte Wange. Der rundliche Kleine war Priester; der andere, früh gealtert, nichts als Haut und Knochen, in einem schäbigen Anzug, blieb kurz stehen und stöhnte.
»Entschuldige, Pepito, die Plackerei.«
»Das ist es nicht, ich kann mich nur nicht an sie gewöhnen, an diese Miniröcke! Jetzt sind sie zwei Handbreit über dem Knie …«
Der Priester lachte gutmütig und errötete ein wenig. Er war sehr jung, nur der steife weiße Kragenstreifen und der schwarze Umhang über dem Hemd deuteten darauf hin, dass er Kleriker war. Niemand hätte sagen können, in welcher Eigenschaft er bei der irischen Botschaft beschäftigt war. Freunde hatten ihn zusammen mit der Frau des Botschafters in den Arbeitervierteln Pakete verteilen sehen.
Busse, Taxis, Personenwagen überholten sie, krochen den steilen Weg hinauf und hüllten sie in eine Wolke von Abgasen. Die Admiral-Pérez war jetzt Einbahnstraße geworden; dies und das Schweigen der jungen Leute — früher waren die Mädchen und die Jungen den steilen Weg umschlungen und immer in ausgelassenem Gespräch hinauf- und hinuntergegangen —, nur diese zwei Dinge zeigten den Wechsel an. Ansonsten — die gleichen Geschäfte: ein Fotoatelier, Fotos von Ballettmädchen und Generälen im Schaukasten; in einem Blumenladen gelbe, spitzblättrige Blumen wie Schwerter; in der Vitrine einer Boutique ein ausgerollter Ballen irrsinnig teurer Seide und in der Ecke eine riesige Flasche französisches Parfum. Und noch eine Boutique: auf einem niedrigen Gestell ausgebreitet eine rote Jacke und ein roter Rock, Arme und Schenkel breit geöffnet, als wären die Kleider einer gekreuzigten, weiblichen Wachsfigur, die man verbrannte, ganz und unzerknittert geblieben. Ein Amerika-Laden, ein Antiquar, eine Cafeteria, ein Gemüseladen mit einer Kühltruhe und Stahl-Regalen als Schaufenster. An der Tür in makelloser, fußlanger Schürze der Gemüsehändler.
»Eh, viejo !« rief er Pepito zu, blickte aber den Pater an. Bedeutungsvoll strich er sich mit dem Mittelfinger über seinen grauen Schnurrbart.
»Wer ist das, kennt er dich?« fragte der Pater besorgt.
»Er ist auch von drüben gekommen, mit uns. Er ist der Schmierfink, falls du etwas davon gehört hast. Wie lange ist das eigentlich her, dreißig Jahre? Den Spitznamen haben wir ihm verpasst, nachdem Madrid gefallen war und wir fortgingen, in die Emigration. Die Verzweiflung hatte ihn gepackt, der gab sich nur noch zynisch, bekam Läuse. Und er hatte es mit einer — so ein dunkles Frauenzimmer und dürr wie eine Bohnenstange. Du müsstest sie gesehen haben, wie sie die Molotows schmiss, wie ins Schwarze in die Luken der Panzer! Und in der Liebe, erzählte er mir, ein heißes Ding, und langsam, verdammt langsam war sie, er musste sich die Hüften jedes Mal fast auskugeln. Aber wenn es ihr kam, der Blitzschlag, oh Madre de Dios, dann sperrte sie ihren Mund auf, so groß wie ein Scheunentor und schrie ›y no pasarán, y no pasarán‹, und sie nahm ihre Zöpfe und stopfte sie selbst in den Mund, damit man sie nicht hörte, und zuckte wie der Fisch auf dem Trockenen ... ›Y no pasarán!‹ Als wenn sie Angst hätte, die Ärmste, dass sie doch durchkommen … Und dann, also hier, nahm er einen Karren und verkaufte Gemüse; mit der Zeit wurden die Geschäfte besser, er wurde wieder ein Mensch. Jetzt aber, bei dem Putsch, ging es nochmals bergab mit ihm: Er ist wieder zynisch geworden.« Er wurde wieder zynisch.
Bei der Ampel blieben sie stehen, warteten auf Grün, um die Straße zu überqueren; dort drüben sah man schon die Grünflächen des Platzes. Der Pater murmelte hastig irgendetwas zwischen den Zähnen, vielleicht betete er für den Gemüsehändler.
»Padre«, unterbrach ihn Pepito, »musstest du gerade jetzt dein Vaterunser leiern? Komm, wir können rüber. Seit Tagen denke ich über dich nach: Was will er von mir, wo bringt er mich hin, dieser … Papist? Und wenn er bei den anderen gewesen ist, als wir uns für die Demokratie abschlachten ließen, was dann?«
»Bist du bei Trost? Hast du keinen Zeitsinn? 1936 war ich noch nicht einmal geboren!«
»Ich meine nicht dich, nicht deine werte Person persönlich. Ich meine einen wie dich; Priester, katholisch halt. Welcher Teufel hat es fertiggebracht, dass ausgerechnet du und ich im gleichen Brunnen stecken und der eine den anderen hochstemmt, damit man ans Licht kommt?«
»Soll ich es dir sagen?«
»Ich weiß schon, die Generäle, die Monopole, der CIA …«
»Nein, der leidende Christus hat uns verbunden.«
»Schon gut, schon gut. Die Litanei kennen wir schon …«
Sie waren beim Club der Katholischen Jugend angelangt. Hinter der doppelten Glastür stand der Portier, einer jener imponierenden Typen, die dir gleich einen Minderwertigkeitskomplex unterjubeln. Hinter ihm ging mit elastischem Schritt ein Mann im dunklen Anzug auf und ab, mit so einer Visage. Keiner von ihnen machte Anstalten, weder die Tür zu öffnen, noch dem Pater und seinem Begleiter tragen zu helfen. Der Pater und Pepito brachten die Pakete in der Kammer des Portiers unter, der Pater sagte, ja, sie sollten dort bleiben, es seien die Geräte und die Filmrollen für die Vorführung am Abend und niemand solle sie anrühren, er würde dann schon Bescheid geben. Unbeteiligt schaute der mit der Visage beharrlich zur Decke hinauf.
»Der gefiel mir nicht«, sagte der Pater, als sie draußen waren.
»Tja«, meinte der andere fatalistisch, »die Seguridad ist schon benachrichtigt für heute Abend.«
»Hat er dich erkannt?«
»Was soll er denn erkannt haben?«
»Gut, dass du gar nicht gesprochen hast.«
»Warum? Und wenn ich was gesagt hätte?«
»Dein Kastilianisch. Hier gibt es nicht so viele …«
»Sie hätten höchstens denken können: Der Pfarrer Sean O'Flaherry mit seinem spanischen Gepäckträger.«
»Nein. Sie würden denken: Antonio Alomar, ehemaliger politischer Kommissar der 69. Division, mit seinem kleinen Pater.«
»Das ist allerdings ernst. Ich wusste nicht, dass Sie wussten ...«
»Hmmm.«
»Und wer hat Ihnen gesagt, dass ich meine Überzeugung geändert hätte?«
»Du bist es nicht, Pepito, der anders geworden ist. Die Zeiten haben sich geändert. Wollen wir uns irgendwo hinsetzen, etwas zu uns nehmen?«
»Es ist besser, wir gehen hier weg.«
Jetzt war es Antonio, der unruhig wurde. Geheimpolizisten, hier und da verteilt, sahen den kleinen Kindern zu, die in ihren Mäntelchen auf dem Rasen herumtobten. Freunde, alte und neue, erkannten ihn überrascht wieder. Was würden sie bloß denken? Sie gingen wieder die Admiral-Pérez hinunter. Der Gemüsehändler, wieder an der Tür, tat, als sähe er sie nicht.
»Was meinten Sie, Padre, als Sie sagten, die Zeiten hätten sich geändert?«
»Antonio Alomar, für wen hältst du mich? Meinst du, ich begreife nicht, was los ist?«, unterbrach ihn ärgerlich der Pater und spreizte die Hände, die Handflächen nach oben, sein Bäuchlein spannte sich unter dem schwarzen Umhang. Auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig spazierte ein Rentner, den Schal um den Hals, Arm in Arm mit seiner kleinen Alten. Beide trugen dicke Brillen, blieben stehen und beobachteten sie. In der neuen Atmosphäre der »Wiederherstellung der Ordnung« aller Dinge stritten ein Kleriker und ein Rumtreiber miteinander. Sollten sie nicht vielleicht die Streife rufen?
Der Pater errötete wieder; er fasste Pepito am Ellenbogen, drängte ihn, weiterzugehen, und senkte die Stimme:
»Ich will was Anderes sagen. Ihr und wir, Weiße, Gelbe, Schwarze, haben heute, heute, sage ich dir, das gleiche Schicksal, wir werden von der gleichen Gefahr bedroht.«
»Und wie bekämpft man sie nun? Mit Tonbändern? Indem man die Musik eines Dokumentarstreifens durch einen Begleittext ersetzt?«
»Begleittext? Hast du die Worte nicht erkannt, als wir das Band im Studio durchlaufen ließen? Es war Miguel de Unamuno in der Universität von Salamanca! Der prophetische Alte — einen Fuß schon im Grab, mit seiner vom Horror der Tragödie, die uns unerbittlich niederdrückte, gebrochenen Stimme — verkündete dem Faschisten, dem krüppeligen, halbirren General, der die Parole der marokkanischen Legion herausschrie: ›viva la muerte‹, seinen Glauben an das Leben und an die geistigen Werte des Menschen! Pepito, heute muss das Wort wieder anfangen, sich Gehör zu verschaffen, wir müssen die Seelen stärken.«
»Mit Herumreden, mit indirekten Hinweisen? Heute, Padre, wenn du nicht die Dinge beim Namen nennst, wenn du nicht mit dem Finger auf sie zeigst, heute ist alles, was man auch sagt, wie schön man es auch sagt, nur Wasser auf die Mühle der Tyrannen! Aber ich bitte dich, werden sie einwenden, wer beklagt sich denn darüber, dass es keine Freiheit gibt?«
»Du unterschätzt den Scharfsinn der Leute doch zu sehr. Du, Antonio Alomar.«
»Welcher Leute? Ihr? Was wisst ihr schon von dem, was passiert und was geredet wird.«
»Ich weiß, Pepito, was passiert. Hilda Gómez starb, wahnsinnig geworden, nachdem sie einen Tag zuvor zusehen musste, wie ihr Mann zu Tode gefoltert wurde, ebenso wie gleich darauf ihr vier Monate altes Kind. Hör, es spricht die Nonne Carmen Borges Silveira: ›Padre, man hat mich gezwungen, mich vor meinen Folterern zu entblößen; sie führten mir Elektroden in die Genitalien ein‹. Es spricht Concita Maria Inocencia Abelardo: ›Sie haben mich an den Knien und den Ellenbogen an einem Querbalken aufgehängt, und in dieser Stellung traktierten sie mich mit Hilfe eines Feldtelefons mit Elektroschocks von 90 Volt. In dieser Stellung schlug mich der Sergeant Leo Hernando mit seinem Gummiknüppel auf das Gesäß, die Schienbeine, die Fußsohlen. Ab und zu ließ er das Schlagen und betätigte sich sexuell an mir … Mein Körper wurde gestreichelt, geküsst und misshandelt in einer Weise, die ich Ihnen nicht zu beschreiben wage, Padre, auf dass Ihre Seele nicht verdammt werde …‹«
Sie standen etwa fünf Minuten lang auf dem Bürgersteig am Anfang der Admiral-Pérez. Inzwischen war das Wetter umgeschlagen, eine Art Wolkenschwüle, Hitze und Donnergrollen zugleich. Ein ruhiges Licht lag auf dem stillen Gesicht des Priesters, während er sprach. Ein nervöses Zucken durchlief die knochigen Schultern Antonios, ein sehr dünnes Rinnsal — Schweißtropfen oder gar Tränen? — bahnte sich einen Weg durch seine Bartstoppeln. Er wollte sprechen, ein Kloß im Hals machte seine Stimme heiser. Dann platzte es in einem Anfall von rasender Wut heraus:
»Naiv, naiv seid ihr! Mit Filmprojektionen und Gefasel wollt ihr … naiv, arglos, ahnungslos! Beispiel: Wieso hast du mir vertraut? Hast mich ganz allein im Studio die Geräte und die Bänder einpacken lassen? Und wenn ich darin eine Bombe versteckt habe?«
»Ich kenne dich, ich weiß, wer du bist. Du würdest nie wollen, dass Unschuldige getötet werden.«
»Nicht heute Abend. Doch jetzt, jetzt diesen mit der Visage und den anderen, den Portier.«
»Auch sie sind nicht schuld, sie wissen nicht, was sie tun.«
In diesem Augenblick hörte man eine Detonation.
»Pepito«, sagte der Priester in Panik, seine Hand zitterte. Der andere sah ihn mit einem rätselvollen Lächeln an. Nach einer Weile sagte er:
»Keine Bange. Es war die Sprengung auf dem Bolivar-Platz. Sie reißen dort das Mosaik für die neuen Marmorplatten ab.«
Aus: Danae Coulmas (Hg.), Die Exekution des Mythos... fand am frühen Morgen statt,
in Vorbereitung, Edition Romiosini, 2017.
Originaltitel: Αλλαξοκαιριά (1970).
Übersetzt von Danae Coulmas und Nonna-Nielsen-Stokkeby.