#Lesestoff
17.12.2014
Aus Anlass des tragischen Todes von Menis Koumantareas, der in der Nacht vom 5. zum 6. Dezember 2014 in seiner Athener Wohnung ermordet wurde, präsentiert das CeMoG den bedeutenden Autor und Übersetzer anhand einiger einführender Notizen zu seinem Leben und Werk sowie einer Erzählung aus dem Erzählband Mein fantastischer Frisiersalon (C.A. Hainholz Verlag, Übersetzung: Luna Gertrud Steiner).
Menis Koumantareas (1931-2014)
Menis Koumantareas, geboren 1931, gestorben in Dezember 2014 in Athen, veröffentlichte sein erstes Buch, den Erzählband Die Spielautomaten (Τα μηχανάκια, 1962). Seitdem und bis zu seinem letzten Roman Der Schatz der Zeit (Ο θησαυρός του χρόνου, 2014) schrieb er viele Romane, Novellen und Erzählbände und wurde mit den wichtigsten Literaturpreisen ausgezeichnet. Er hat außerdem als Drehbuchautor mit den Regisseuren Pantelis Voulgaris und Diagoras Chronopoulos zusammengearbeitet und u.a. Werke von Lewis Caroll, E. A. Poe, Ernest Hemingway, William Faulkner und Francis Scott Fitzgerald ins Griechische übertragen. Romane und Erzählungen von ihm wurden in dreizehn Sprachen übersetzt. Auf Deutsch sind die Romane Glasfabrik (1985) und Der schöne Hauptmann (2001) sowie der Erzählband Mein fantastischer Frisiersalon (2002) veröffentlicht worden. Zwei Erzählungen von ihm sind außerdem in den Anthologien Die Exekution des Mythos… fand am frühen Morgen statt (1984) und Griechische Erzählungen des 20. Jahrhunderts (2001) erschienen, beide herausgegeben von Danae Coulmas.
Koumantareas gilt in der griechischen Prosa als der Vertreter des sozialen Realismus par excellence, obgleich es in seinem Werk ebenso lyrische Seiten und elegische Stimmungen gibt, die sich auf den Verfall der Jugend und der Schönheit beziehen. In den meisten seiner Werke geht es, neben der Handlung, auch um ein spannendes Flanieren durch Wohnviertel, in denen sich das Leben seiner Heimatstadt Athen abspielt. Das sind zunehmend die alten, bürgerlichen Bezirke, die erst städtebaulich verkamen und später Billigwohnungen für Flüchtlinge aus Afrika und Asien boten; hier findet sich vielleicht nicht nur das interessanteste Element seines Realismus, sondern auch die tiefere lyrische Dimension seiner schriftstellerischen Persönlichkeit.
Nach: Dimosthenis Kourtovik, Griechische Schriftsteller der Gegenwart,
Köln, Romiosini-Verlag, 2000.
Erzählung: Der Blasse
ICH HEISSE EVRIPIDIS. Mit so einem Namen hat man es schwer. Ich hätte Geistlicher, Arzt oder Schriftsteller werden können. Es tut den Menschen gut, sich das Herz auszuschütten, und mit einem Friseur spricht sich’s leichter als mit einem Psychoanalytiker. Seit Jahren schon höre ich meinen Kunden zu. Allmählich habe ich gelernt, ihre Geschichten vom einen zum anderen weiterzugeben. Das Haareschneiden hilft, denn es entkrampft die Seele.
DER BLASSE
Es war ein stickig heißer Mittag. Ich hatte gerade keine weiteren Kunden und warf daher einen Blick in die Zeitung. Die Dame aus dem Dessous-Laden von nebenan öffnete die Tür einen Spaltbreit und steckte ihren fuchsrot getönten Schopf herein.
„Evripidis, hast du gestern Abend den Film im Fernsehen gesehen? Meine Sache sind Western ja nicht, aber der Schauspieler, der das Bleichgesicht spielte, war da schon etwas anderes. Adonis, wie er leibt und lebt! Solche Männer findet man kaum noch.“
So schwatzte sie auf mich ein, und da ich mich nicht einmal zu ihr umdrehte, schloss sie die Tür hastig wieder. War ihr nach Plaudern zumute oder hatte sie sonst was auf Lager? Immer wenn sie hereinkommt, passiert etwas. Wie neulich als, kaum war sie weg, der Bruder eines Kunden eintrat, welcher sich seit Monaten nicht mehr hatte blicken lassen.
„Was ist mit Pavlos?“, fragte ich ihn.
„Evripidis, komm bitte mit zu uns und rasiere ihn.“
Er wirkte blass und aufgewühlt. Ich ging mit, obwohl ich verkühlt war und Kopfschmerzen hatte. Ich fand meinen Kunden, abgestützt mit drei Kissen, als Bräutigam gekleidet vor. „Eine letzte Rasur“, sagte sein Bruder, „sein Bart wächst noch.“
Daran musste ich denken, als ich mich in die Zeitung auf meinem Schoß vertiefte. Plötzlich verdüsterte sich die Sonne. Ich sah auf. Ein Schatten, kräftig, wie von einer Zypresse geworfen.
Ich vermutete einen der rabenschwarzen Gestalten im Türrahmen – einen Angestellten des Bestattungsinstituts, das gleichfalls an meinen Laden grenzt. Jedes Mal, wenn ich daran vorbei muss, mache ich einen Bogen darum herum und kreuze meine Finger, denn seine violetten, blinden Fensterscheiben verheißen nichts Gutes.
„Kann ich etwas für Sie tun?“ fragte ich den schwarzgekleideten jungen Mann.
Sein Haar war tiefschwarz wie seine Kleidung, und ich hätte, sah man von seinem auffallend rosafarbenen Hemd ab, meinen Kopf darauf verwettet, dass ich es mit einem waschechten Leichenbestatter zu tun hatte. Vielleicht aber auch nur mit einem dieser Schönlinge, die durch die Gegend flanieren und den Heiratswilligen spielen. Er sprach nicht. Die Sonnenbrille saß in einem Gesicht, das weiß war wie das eines Zirkusclowns.
„Haarschnitt gefällig?“, erkundigte ich mich. Was man eben so fragt.
Mit einer bejahenden Kopfbewegung trat er in meinen Laden. In dem Augenblick wünschte ich mir noch, er wäre überhaupt nicht gekommen. Ob jemand auf der Schwelle steht oder deinen Laden betritt, sind zweierlei Unglücksvorboten.
Die Art, wie ein Kunde im Stuhl Platz nimmt, sagt meines Erachtens viel über seinen Charakter aus. Die einen lassen sich mit ganzem Gewicht in den Frisiersessel plumpsen, während andere wie arme Sünder darauf herumrutschen. Der junge Mann fuhr zunächst mit dem Finger prüfend über die Sitzfläche, ob sie auch sauber sei, um sich anschließend angespannt und steif wie eine Schaufensterpuppe hinzusetzen. Seine Kleidung war aus teurem Tuch maßgeschneidert, nicht von der Stange. Er trug Manschetten, unter denen eine goldene Rolex wie eine Sonne hervorblitzte. Seine Nägel waren kurz und perfekt manikürt. Aristokratenhände waren es dennoch keine, und die eines Städters auch nicht. Die Adern traten hervor, und die Handrücken erschienen mir kräftig genug, dass er Steine hätte zerbröseln können.
„Möchten Sie nicht Ihr Jackett ablegen?“
Er schien unschlüssig und ließ sich von mir heraushelfen. Mit wachsamem Blick verfolgte er, wo ich es hinhängen würde. In seinem roséfarbenen Hemd wirkte er wie ein wildes Rodeopferd, dem man Festtagsschmuck aufgezwungen hatte. Ich legte ihm das Handtuch um und fasste ihn am Kinn, um seinen Kopf in Stellung zu bringen. Das mache ich bei jedem neuen Kunden, um seine Vorlieben zu ergründen, das heißt, ob ich ihn rasch abfertigen oder die Behandlung in die Länge ziehen soll.
An diesem hier war meine Mühe vergebens. Er blieb angespannt und verschlossen. Abgesehen von seiner Blässe sprang mir die Vorzüglichkeit seines Haars sofort ins Auge. Solche Kunden kommen mir nur selten vor. Sogar bei jungen Männern mit dichteren Mähnen merke ich schon früh, wenn eine Glatze im Anzug ist. Der Haarwuchs dieses Menschen würde hundert Jahre vorhalten, wenn, ja wenn er es selbst so lange machen würde.
„Möchten Sie nicht ihre Brille abnehmen?“
Er stutzte. Als hätte ich ihn aufgefordert, die Hosen runterzulassen. Da ich nicht locker ließ, nahm er sie mit einem Ruck ab und ließ sie in die Hemdtasche gleiten. Seine dichten Wimpern schirmten die Augen wie Vorhänge ab.
„Haben sie einen besonderen Wunsch?“
„Ein wenig kürzen und gut waschen, sonst keine Umstände.“
Er sprach wie außer Atem und leise, als wäre er Meilen gelaufen.
Der stümperhaften Schur nach zu schließen, die man ihm verpasst hatte, musste er einem Pfuscher in die Hände gefallen sein.
„Junge, Junge, was hat man denn mit Ihnen angestellt“, konnte ich mir nicht verkneifen auszurufen.
Seine dunklen, stechenden Augen blickten zu mir hoch. Sie waren schmal wie die eines Chinesen und von dunklen Ringen umgeben – Augen, die bei Müdigkeit noch betörender sind. Die Schönheit eines Menschen ist ja nicht unbedingt auch anziehend. Ein hässliches Gesicht kann zwar nicht noch hässlicher werden, aber eine schönes kann monströse Züge annehmen.
Mit der Zeit ging mir auf, dass sich hinter seinem makellosen Äußeren ein seelischer oder körperlicher Erschöpfungszustand verbarg. Oft gehen ja beide miteinander einher.
„Möchten Sie eine Tasse Kaffee?“
Er setzte zu verneinen an, aber ich kam seiner Ablehnung zuvor.
„Ich werde auch einen trinken.“
„Danke“, sagte er schlicht und ohne Pose.
Jetzt betrachtete ich ihn genauer. Älter als fünfundzwanzig konnte er kaum sein. Vielleicht hatte er einen anstrengenden Job und war noch nicht zum Atemholen gekommen. Hinter seiner hölzernen Haltung verbarg sich möglicherweise ein ganz normaler oder aber empfindsamer Mensch.
„Du musst einen ziemlich anstrengenden Job haben“. Ich war zum Du übergegangen. Dem Alter nach hätte er mein Sohn sein können.
„Ja, sehr“, antwortete er mit einer gewissen Erleichterung.
Endlich hatte er mir einmal beigepflichtet.
„Ich hoffe, es ist keine schwere körperliche Tätigkeit.“
Er sah mich prüfend an. Ein sehr vorsichtiger und bedachter, vielleicht auch sehr fähiger junger Mann, wer weiß.
„Oder kommst du nicht von der Arbeit?“ nahm ich den Faden wieder auf.
„Doch, doch“, sagte er knapp.
Ich nahm einen Schluck Kaffee. Mittlerweile hatte ich mich zum Backenbart vorgearbeitet.
„Soll ich ihn kürzen?“ fragte ich.
Die einen möchten in bis zum Mund haben, die anderen glattrasiert werden wie Rekruten.
„Was würde eine Frau besser gefallen?“ fragte er unvermutet.
Jetzt hab ich ihn, dachte ich, zu einer Frau ist er unterwegs. Komisch, normalerweise ist man erst hinterher müde. Ach, was würde ich darum geben, noch einmal fünfundzwanzig zu sein!
„Die Frauen“, antwortete ich, „lieben den Durchschnitt, das Mittelmaß.“
„Bisweilen auch die Mittelmäßigkeit“, gab er zurück und biss sich auf die Unterlippe.
„Das ist wahr“, sagte ich, „aber was tun wir nicht alles für sie. Sieh´s doch so: Gäbe es keine Frauen, wären wir Männer arbeitslos.“
Er erstarrte augenblicklich, und ich rückte mit meiner Schere ab.
„Ich glaube nicht, dass du unser Gespräch missverstehen solltest“, sagte ich, „wir sind Männer, daher können wir offen miteinander reden.“
Keine Reaktion.
„Du hast Deinen Kaffee nicht ausgetrunken“, versuchte ich das Thema zu wechseln.
„Mehr will ich nicht“, antwortete er, „er schlägt mir auf die Nerven – was mir fehlt, ist Schlaf.“
Das ist es also, dachte ich, deshalb ist er so bleich.
„Arbeitest du nachts?“
„Ja, oft auch untertags.“
Ich verlangsamte meinen Haarschnitt. Möglicherweise würde er ungehalten werden, aber meine Neugierde siegte.
„Hast Du etwa zwei Jobs?“
Er grinste abschätzig.
„Schön wär's“, sagte er, wobei er das Handtuch um seinen Hals auseinanderzog, „es ist wie Laufen ohne anzukommen.“
„Ist es dir eng“, fragte ich scheinheilig.
Je mehr ich das Handtuch lockerte, desto mehr geriet er in die Enge. Konnte ja sein, dass er einem ganz simplen Beruf nachging, vielleicht aber einem, von dem ich noch nie gehört hatte.
Bis zum Schluss der Rasur redete er kein Wort. Ich half ihm ins Jackett und er setzte seine Brille wieder auf. Er stand auf und ich bürstete ihn ab.
„Auf dem schwarzen Untergrund sieht man jedes Stäubchen“, sagte ich, „und auf einem weißen auch.“
„Wie bei den Frauen“, sagte er unvermittelt – ob schwarz oder weiß, sie hinterlassen Spuren.“
„Bist du verheiratet?“, fragte ich.
In seinem Seitenblick las ich, „Sehe ich so aus?“
„Ich hoffe, ich sehe dich wieder“, versuchte ich, die Stille zu durchbrechen, „vorausgesetzt, du warst zufrieden, versteht sich, und du keinen Stammfriseur hast.“
Was ich bezweifelte.
Er warf einen Blick in den Spiegel.
„Ich habe keinen“, sagte er, „ich gehe wohin der Weg mich führt.“
„Ich hab's“, lachte ich, „du handelst mit schöner, teurer Ware, und deswegen bist du so viel auf Achse, habe ich Recht?“
„Da liegst du nicht einmal so verkehrt“, antwortete er. Und schon war er wieder ernst und unnahbar.
Dieser Mensch, dachte ich, lässt wohl nur seine Mutter an sich heran, und seine Geliebte vielleicht.
„Ich erwarte dich jedenfalls“, bekräftigte ich, „und mein Gefühl sagt mir, dass du bald wiederkommen wirst, denn sicherlich muss du für deinen Beruf aussehen wie aus dem Ei gepellt.“
„Adieu“, sagte er brummig. Mir den Rücken zukehrend wurde er wieder zu dem Schatten auf der Straße. Seine Lockenpracht lag über den Boden verstreut.
„Evripidis“, scheuchte mich andern Tags die alte Füchsin aus dem Nachbarladen aus meinen Grübeleien, „hast du Kaffee für mich übrig? Du, wer war denn der junge Mann, dem du gestern die Haare schnittest? Ein schöner Junge, aber er hatte einen merkwürdigen Blick. Der machte mir Angst.“
Sie blinkerte mich unter flatternden Lidern an.
„Ein Totengräber“, antwortete ich. Worauf sie auf dem Absatz kehrt machte und der Kaffee vergessen war.
* * *
FAST ZWEI MONATE VERGINGEN. Der Herbst war ins Land gezogen und die Blätter fielen von den Bäumen. Ich hatte den Arbeitstisch gesäubert und war bereit, den Laden zu schließen, als ich den Schatten im Schaufenster gewahrte. Ich fuhr auf. Aus seinen schwarzen Brillengläsern beobachtete er mich wie ein Einbrecher, der sich in aller Ruhe bereit macht, einem die Kasse auszurauben.
Ich fasste mich schnell und öffnete ihm die Tür. Er trug einen anderen, ebenso teuren dunklen Anzug und ein veilchenblaues Hemd mit offenem Kragen. Sein Hals mit dem Grübchen unter dem Adamsapfel sowie der obere Abschnitt seiner Brust waren zu sehen.
„Tritt ein“, wies ich ihn herein, „ich hab gewusst, du wirst wiederkommen“, und empfand zugleich Neugierde wie Freude.
Diesmal warf er sein Jackett achtlos auf einen Stuhl, und ich hängte es sorgfältig für ihn auf. Da er kein Unterhemd trug, konnte ich seine Haut erspähen. Weiß wie Marmor. Er setzte sich in den Sessel, als kennte er bereits den Hausbrauch. Seine Rolex aus massivem Gold glänzte wie die Sonne. Zurschaustellung oder Zubehör seines Berufs? Er warf einen Blick in den Spiegel und wandte ihn wieder ab. War er sich seiner Erscheinung so sicher oder ging er einer Sache aus dem Weg? Geheimnisvoll sind die Beziehungen der Menschen zum Spiegel. Er war wieder blass, leichenblass, und seine Wangen waren eingefallen.
„Kleiner Kaffee gefällig oder Toast?“ Ich griff automatisch zum Telefon. Er reagierte nicht. „Setzt du deine Brille nicht ab?“
Wie ein kleiner Junge leistete er meiner Aufforderung Folge.
„Wer immer dir die Haare macht, das ist ein Pfuscher“ – ich fuhr mit meinem Kamm durch sein Haar – „es ist besser, du hast immer denselben Friseur, auch wenn er mittelmäßig sein sollte. Wenigstens kennt er sich mit deinem Haar aus.“
So etwas gehört zu den Ratschlägen, mit denen ich das Vertrauen eines Kunden rasch gewinne.
„Wie steht’s mit der Arbeit“, fragte ich, „zweifellos ist sie einträglich. Der Herbst ist eine schöne Jahreszeit, und alles geht wieder los.“ Er zuckte die Achseln.
„Und, geht alles in seinem gewohnten Rhythmus weiter?“, setzte ich meine Ermittlungen fort. „Sommers wie winters?“
Ich versuchte, so neutral wie möglich zu klingen, und er beäugte mich im Spiegel, die Augen zusammenkneifend.
„Alle wollen sie etwas von mir, zu jeder Jahreszeit“, war die Antwort.
„Wer sind alle?“
Er lachte bloß und blieb die Antwort schuldig. Beim Lachen verlor er sein männliches Gehabe und wurde zu einem Kind, das nicht bis drei zählen konnte. Der Unbedarfte war jedoch ich, wie sich herausstellen sollte.
„Worin deine Tätigkeit auch immer besteht, ich bin sicher, dass du sie gewissenhaft ausführst. Faulpelze erkennt man auf Entfernung. Leider wollen neun von zehn in deinem Alter das schnelle Geld.“
Das Lächeln wich aus seinem Gesicht.
„Das wolle ich anfangs auch, und von Arbeit wollte ich nichts wissen. Was die Erwachsenen machen, kam mir öde und sinnlos vor, und das ist noch immer so. Eigentlich wollte ich es mir leicht machen“, fuhr er fort, „aber die scheinbar mühelosen Wege sind oft die mühseligsten.“
Seine Zunge hatte sich mit einem Mal gelöst. Es fehlte nicht mehr viel, und er würde sein Geheimnis lüften.
„Du wirst es wissen“, sagte ich, „in deinem Alter wirst du bereits deine Erfahrungen haben.“
„Wie alt schätzt du mich?“, fragte er.
„So fünfundzwanzig, sechsundzwanzig.“
„Dreiundzwanzig“, sagte er, sichtlich enttäuscht, „und wenn ich eine andere Arbeit hätte, sähe ich aus wie ein Knirps. In meiner Familie sehen alle um Jahre jünger aus.“
„Ach was, du bist doch immer noch ein kleiner Junge“, versuchte ich ihn zu trösten. „Lebst du bei deinen Eltern?“
Er machte eine verneinende Geste.
„Bist du der einzige Sohn?“, bohrte ich weiter.
„Ich habe einen jüngeren Bruder, er besucht die Oberstufe des Gymnasiums.“ Seine Stimme hatte erstmals einen zärtlichen Klang.
Meine Schere arbeitete und mein Hirn desgleichen. Wer auch immer dieser andere Herrenfriseur war, er hatte einen Murks gedreht.
„Wenn du so weitermachst, wird das dein Ruin sein.“
Er zuckte. Beinahe hätte ich ihn ins Ohr geschnitten.
„Was soll das heißen?“
„Die Friseure, die dich schneiden, was sonst?“
Fürs Erste schien er beruhigt.
„In meinem Beruf steht das Aussehen an erster Stelle, sonst wäre ich ein Nichts.“
„Wenn eine Mann Charakter hat“, gab ich zurück, „ist die äußere Erscheinung zweitrangig.“
Er verzog den Mund.
„Schneid keine Grimassen“, riet ich, „sonst bekommst du Falten.“
„Und wenn schon“, erwiderte er achselzuckend, „wenn du einmal weißt, welchen Beruf ich habe, verlierst du deine Bedenken.“
Ich hielt inne und suchte seinen Blick.
„Wie war doch dein Name gleich?“
Die Antwort kam nicht sofort.
„Adonis.“
Adonis, dachte ich, wie der Adonis.
„Adonis“, sagte ich, „mir ist das schnurz. Meinetwegen kannst du ein Mörder sein, solange du dich bei mir benimmst.“
Er lachte.
„Das sagen meine Kundinnen auch.“
„Hast du nur weibliche Kunden“, fragte ich beiläufig.
„Ja“, sagte er und mied meinen Blick, „und ich komme nicht nach, sie alle zu bedienen.“
Ein Schmerz durchzuckte meinen rechten Arm bis in den Rücken. Vorboten des Alters.
„Besser Frauen als Männer“, sagte ich, um ihn aus der Reserve zu locken, „sie machen die seriöseren Geschäfte.“
Ich spürte, dass ich ganz nahe dran war.
„Sie rauben dir Saft und Kraft?“, sagte er kurz gefasst.
Sein Ausdruck schwankte zwischen Ermüdung und Abscheu.
„Wenn ich so weiter mache“, sagte er ohne mich anzusehen, „sterbe ich an Auszehrung.“
„Was hat das mit deinem Beruf zu tun?“, fragte ich.
Er versank immer mehr im Sessel, als wäre er abschüssig, und meine Gedanken glitten ins Bodenlose.
„Er hat absolut damit zu tun: Die Frauen ...“
Ich bückte mich, um die Schere vom Boden aufzuheben. Seit Jahren das erste Mal, dass mir mein Werkzeug aus der Hand geglitten war. Sein Werkzeug musste immerfort in Habachtstellung sein.
„Ich hab’s dir gesagt. Erführst du die Wahrheit, wolltest du mich nicht mehr zum Kunden haben.“
Ich tauchte meine Schere in ein Behältnis mit Weingeist.
„Sei still“, beschied ich, „du begreifst nicht, welch unfähigen Menschen du dein Haar anvertraust, wo du doch zum ersten Coiffeur Athens gehen solltest.“
Ich fuhr mit dem Frisieren und er mit dem Erzählen fort:
* * *
ICH BIN IN AEGALEO AUFGEWACHSEN. Bis ich vierzehn war, hatte ich von Tuten und Blasen keine Ahnung. Die größeren Mädchen machten sich immer wieder an mich heran, berührten mein Gesicht und betatschten meinen Körper. Untereinander lachten und tuschelten sie. Weg mit den Pfoten, ihr Weiberleut, verscheuchte meine Mutter sie, ihr verderbt ihn mir. Und zu mir sagte sie: Zieh dir etwas über und tu nicht so unschuldig. Ich schrieb mich im Fitnessstudio ein. „Wozu brauchst du Geräte?“ sagte der Trainer, „wenn Gott dir so einen Körper geschenkt hat?“ Mein Vater, ein Kühltechniker, nahm mich zur Arbeit mit. „Damit du weißt, wie man sich die Brötchen verdient und die Herumtreiberei ein Ende hat“, sagte er.
Zu der Zeit wohnte gerade eine weit entfernte Tante meines Vaters bei uns. Sie hatte in Patras gelebt und trug seidene Wäsche, parfümierte sich und legte ihre Strümpfe schon lange, bevor der Frühling kam, ab. So etwas war in unserer Familie unüblich. Als wir eines Abends allein zu Hause waren, löcherte sie mich, ob es ein Mädchen gäbe, das mir gefiele, und ob ich schon eine geküsst hätte. Je mehr sie mich bearbeitete, desto zugeknöpfter wurde ich. ‚Du brauchst dich nicht zu schämen, Dummchen, das sind ganz natürliche Dinge.‘ Und mit einer Hand fuhr sie mir übers Haar, mit der anderen massierte sie mir den Rücken. ‚Mach keinen Buckel‘, sagte sie, ‚der Körper eines jungen Mannes ist sein Kapital. Du musst dich auf Schritt und Tritt vor den Frauen höllisch in Acht nehmen.‘ Ich fragte mich, warum sie das sagte. An den Abenden verließ sie das Haus und kam erst nach Mitternacht wieder. Ich hörte ihren Schlüssel im Schloss und wachte erregt auf. Den ganzen Tag lang flüsterten mein Vater und meine Mutter hinter ihrem Rücken, aber sobald ich dabei war, machten sie dicht.
Eines Abends hörte ich, wie meine Tante mit dem Schlüssel im Schloss herumstocherte. Schau, schau, sie findet das Schlüsselloch nicht, sagte ich mir. Ich hörte, wie meine Eltern aus dem Schlaf schreckten. Ich öffnete meine Tür einen Spaltbreit. Sie hatten sie rechts und links untergefasst, und sie zappelte wie ein Fisch. War sie hysterisch oder betrunken? Ihre Brüste hüpften unter der Bluse wie Gummibälle. Bald begann sie zu kreischen. Die Eltern schlossen Türen und Fenster. Am nächsten Morgen war sie weg, und ich sah sie nie wieder. Aber ihre Worte hallten mir stets in den Ohren: „Nimm dich höllisch in Acht vor den Frauen …“
Dann ging ich regelmäßig abends aus und kam erst in den Morgenstunden wieder. Mein Vater und ich gerieten heftig aneinander, und meine Mutter ergriff Partei für mich, wenn ich nicht dabei war. Ich durchkämmte die Bordelle und blieb bei einer blauäugigen Blonden hängen. Unter all den Kaputten und schwer Gezeichneten erschien sie mir wie ein Engel. Sie hatte ihre Kunden abgefertigt und behielt sich mich für den Schluss auf. „Gehen wir zu mir nach Hause“, schlug sie vor. Das taten wir, sie gab mir ihre jeweilige Tageslosung, und das ging einen Monat lang so.
„Bei den Prostituierten bist du also hängen geblieben, Adonis?“
Nein, es kam schlimmer. Die Polizei ließ meinen Vater kommen. ‚Hol deinen Sohn ab, sonst gerät er vollends auf die schiefe Bahn.‘ Es wurde mir klar, dass ich nicht weiter den Zuhälter machen konnte und kehrte zu meiner Arbeit zurück. Damals hatte ich auch die erste fixe Freundin. Sie machte ihre Friseurlehre. Zwar war sie nicht die schönste, aber wenigstens sie wollte mich nicht nur wegen meiner Visage. Wir gingen zusammen ins Kino, in Cafés, und sie schnitt mir einen Pagenkopf. Bis ich zum Militär musste. Sie schrieb mir jeden zweiten Tag.
„Wo hast du gedient“, fragte ich.
In Evros und auf den Inseln. Meine Sache machte ich so recht und schlecht. Ich spielte krank und wurde ins Lazarett verfrachtet. Man genehmige mir Aufschub. ‚Mangelnde Anpassungsfähigkeit‘, stand in meinem Papier. Ich ging zu meiner Friseuse zurück, aber das war und von Anfang an wie verhext. Sie sah mich jetzt mit anderen Augen. Wohin wir auch gingen, nichts passte ihr. ‚Du machst dich absichtlich zum Gerede und spielst den Pfau‘, warf sie mir vor, und abschwören musste ich bei meiner Mutter, etwas Heiligeres hatte ich nicht. Einmal kam ein Filmproduzent in das Café, in dem ich aus und einging, der wollte mich einkochen. ‚Ich werde dich im Filmgeschäft groß rausbringen‘ und dergleichen. Er gab mir seine Telefonnummer, an der ich ihn erreichen könne. ‚Spar dir die Mühe‘, wehrte ich ab, ‚ich habe kein Talent.‘ Ich wusste, dass er mit mir keine Filme im Sinn hatte. Deshalb, sage ich dir, Evripidis, die sind nur auf meinen Körper scharf.
„Und weiter, Adonis?“ Ich war zum Zerreißen gespannt.
Ich erklärte meinem Vater, dass ich nicht mehr zu den Kühlanlagen kommen würde und dass ich auf eine Annonce hin eine Stelle in einer Boutique an der Ermou angenommen hatte. Dort verkehrten diverse Damen, die nicht nur die Stoffballen anfassten, sondern auch mich. „Du bist mir aber ein hübscher, kleiner Chinese“, sagte eine gut erhaltene Vierzigerin mit nachttopfartigem Hut. „Nein, Vietnamese“, gab ich zur Antwort. „Witzig ist er auch noch, der Kleine“, sagte sie zu ihrer Freundin. Sie kaufte den halben Laden leer und wollte unbedingt, dass ich ihr die Sachen mit meinem Mofa nach Hause brächte.
Ihr Haus war hochherrschaftlich, man trank dort in einem fort Tee, und andere Damen ihres Alters gingen bei ihr aus und ein. Alle kniffen mich in die Wange und kicherten. Damals war ich noch nicht so dünn und hatte noch Wangen. ‚Lass die Unsinnigkeiten‘, sagte Frau Olympia, ‚ich werde dich mit Leuten bekannt machen, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.‘ Sie brachte mir bei, wie man eine Tasse hält. Dass man den kleinen Finger nicht abspreizt, dass man einen Löffel für den Zucker und einen zum Umrühren nimmt, dass man nicht breitbeinig dasitzt und mit den Fingern knackt. ‚Das machen nur Herumtreiber.‘ Ich weiß nicht warum, aber sämtliche Damen sahen in mir den Herumtreiber. Aber was wollten sie dann von mir? Ich übte mich in Geduld. Mein Aufschub lief ab, und es wurde Zeit, wieder einzurücken.
Ich fuhr hin, und man steckte mich ins Gefängnis. Das war in Tripolis, bei beißender Kälte, und ich in einem Schlafsaal mit hundert Lümmeln. Ich schickte bittere Klagebriefe nach Hause. ‚Pass auf‘, schrieben sie, ‚dass du nicht wieder Dummheiten machst.‘ Ich erhielt ein verpatztes Entlassungszeugnis, in dem man mich für verrückt erklärte. Meine Eltern wiesen mir daraufhin die Tür. Ich rief meine Friseuse an. „Ich kann mich nicht mit dir treffen, ich komme um vor Arbeit“, behauptete sie. Fast schnappte ich tatsächlich über. Da klopfte ich wieder bei Frau Olympia an.
Zufällig war gerade ein etwa vierzigjähriger Mann bei ihr. Italienischer Anzug, Dior-Krawatte, wollenes Gilet, Kettchen in der Brusttasche. Er kaute an einem Zahnstocher, und wenn er lachte, sah man sein faules Zahnfleisch. ‚Agisilaos‘, stellte er sich vor. ‚Produzent‘. Was für ein Produzent, war mir nicht klar. ‚Wo hast du denn den her?‘ wollte er, auf mich zeigend, von Olympia wissen. ‚Sonderangebot‘, antwortete sie und gackerte. ‚Wenn du ihn geschenkt haben willst, ich habe ihn eigens für dich besorgt.‘ Sie redeten über mich wie über Ausschussware. Ich machte gute Miene zum bösen Spiel, denn ich hatte keinen Job, und mit meiner Familie war ich zerstritten. Also verließ ich Olympias Haus mit diesem Agisilaos.
‚Ich werde dich in meinem Unternehmen unterbringen‘, sagte er draußen im Wagen – er fuhr einen silberfarbenen Ferrari. ‚Du wirst auf Abruf Telefon sitzen.‘ Du brauchst einen Telefonisten?‘ ‚Ach was, wenn man dich anruft, musst du bereit sein.‘ ‚Wozu denn?‘ ‚Na, wozu, du Schwachkopf, für die Damen natürlich. Nicht zu solchen wie Olympia mit all ihrem Kokolores, sondern zur Aristokratie und zum Jet-Set.‘ Ich wusste nicht, was Jet-Set bedeutet. ‚Komm schon, spiel nicht den Komplizierten, bei deinen Vorzügen. Hälfte für dich, Hälfte für mich, Extras nicht mitgerechnet.‘ ‚Das macht wieviel?‘ fragte ich. ‚Ein Hunderter durch zwei, zufrieden? Extras ausgenommen. Und wenn wir schon dabei sind, ich wünsche erstklassige Kleidung, manikürte Hände und Füße, und ein wenig Gymnastik muss auch drin sein.‘ Er schickte mich in ein Fitnessstudio auf dem Kolonaki. ‚Wenn du dich anstrengst und fleißig bist, wirst du es weit bringen, die Gage wird steigen, es liegt bei dir.‘
Damit begann der übliche Trott. Morgens, mittags, abends Telefondienst. Nichts anders als beim Militär. Ich vereinbarte Treffen in Gegend X auf Nummer Y, wo du dir‘s nur vorstellen kannst. Von Glyfada bis Thrakomakedones, zu den unmöglichsten Uhrzeiten wie zwei Uhr nachmittags oder zwei Uhr früh. ‚Da sind sie geil‘, sagte der Boss. ‚Mit der Zeit wirst du dein eigenes Auto haben, und wenn du gut bist, vielleicht sogar dein eigenes Haus.‘ Ich bewohnte eine Garconnière in Markyjannis und fuhr ein Mofa. Bis dahin hatte ich es nach Lust und Laune gemacht, eine Frau mehr oder weniger, darauf kam’s nicht an, mochte sie auch alt sein, Hauptsache ich war nicht auf meine Familie angewiesen. Aber in Agilsilaos‘ Firma wurde ich zum Profi. Ich musste mich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort einfinden, angekleidet und gewaschen. Man musste die richtigen Worte finden, wenige, aber die richtigen. Ich kam in Häuser, wie ich sie mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen erdacht hatte. Man beschäftige dort Philippinerinnen, Albaner und Polen für alles Mögliche, zur Beaufsichtigung der Kinder, während die Damen sich, besinnungslos vor Verlangen, mir hingaben.
„Wie schamlos“, warf ich mit gespielter Empörung ein, „gemessen an ihnen sind die Prostituierten ja Heilige, nicht wahr, Adonis?“
„Ich weiß nicht.“ Er hatte wieder diesen entrückten Gesichtsausdruck wie unter einer hohen Dosis Haschisch.
„Und wie kommt es zu den Geschäftsabschlüssen mit all demWeibervolk?“ fragte ich, mich zu ihm beugend. Ich brannte vor Spannung, als verfolgte ich einen Film.
„Zuerst wird man angerufen, und die Agentur vereinbart das Rendezvous“, erläuterte er, „wenn die Person es ernst meint, versteht sich, und es nicht eine fingierte Geschichte ist, in der die Polizei die Finger drin hat.“
„Ja, und die Polizei...?“ setzte ich an.
„Die Polizei sieht bewusst weg, es fallen ja auch die entsprechenden Schmiergelder für sie ab. Du musst dir vorstellen, dass ich unter anderem bis zur Frau des Polizeichefs vorgedrungen bin. Das sind auch die Besseren.“
„Donnerwetter“, machte ich, „ich wusste nicht, dass auch diese Damen nach Gusto vorgehen.“
„Wir haben alle Personalausweise mit Foto bei uns, nur dass sie anstelle der persönlichen Angaben Pseudonyme, also Spitznamen, enthalten wie etwa Hundezahn, Araber, Windhund, der Maßlose.“
„Schön. Und nach diesen Namen wählen sie euch aus?“
„Jede wonach sie glaubt. Es gibt auch einen Salon, da lernt man sich kennen, das ist so etwas wie die Bar in einem Hotel oder in einem Relax-House, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Ach so, Relax-House nennt man das heute!“
„Genau, die eine gibt der anderen den Tipp weiter, Telefonnummern und Visitenkarten gehen von Hand zu Hand, das gewährleistet vor allem Diskretion.“
„Wie fortschrittlich Athen doch geworden ist!“
Es wäre nicht nötig gewesen, ihn nach seinem Spitznamen zu fragen. Man handelte ihn als ‚den Blassen‘ und unter diesem Namen wurde er weitergereicht.
„Was ist aus deiner kleinen Freundin geworden?“, fragte ich.
„Ich habe ihr den Laufpass gegeben. Wenn ich verrückt war, dann hatte sie einen Knall.“
„Du wirst bald wieder eine gefunden haben.“
„Als man mich eines Tages zum Flughafen schickte, um dort ein Paket in Empfang zu nehmen, lief mir eine Stewardess über den Weg. Etwa meine Größe, gewelltes, langes Haar und einen umwerfenden Körper.
Gleich nach Dienstschluss zog sie sich in der Passagiertoilette um. Sie war mir zufällig ins Auge gesprungen. Die wichtigsten Dinge im Leben habe ich klammheimlich gemacht. Ich lief ihr nach wie ein Hündchen, obwohl das sonst nicht meine Art ist. Aber ihre Bewegungen hatten mich magnetisch angezogen, die Art, wie ihr Haar beim Gehen um die Schultern wippte, der Schwung ihrer Taille. Das war vielleicht eine Frau!
Draußen an der Bushaltestelle holte ich sie ein. ‚Du wirst dich doch nicht mit dem Bus abmühen‘, sagte, ‚ich habe ein Auto.‘ Ich hatte den silberfarbenen Ferrari bei mir. ‚Gehört der dir?‘ fragte sie. ‚Ja‘, log ich. An jenem Abend gingen wir in ein Restaurant, in die Disco und landeten schließlich bei ihr. Sie hatte einen Kamin und ein Bett so groß wie ein Flugfeld. Zufällig hatten wir beide am nächsten Tag frei. Wir hörten Radio, und durch die Fensterscheiben betrachteten wir die hell erleuchtete Stadt. Wenn einem etwas im Leben bleibt, Evripidis, dann sind es solche Tage.“
„War sie blond oder schwarz?“
„Rothaarig.“
Böse Frauen, dachte ich bei mir, und bürstete ihm die vielen Härchen vom Hals.
„Ihr wichtigster Vorzug war“, gestand er, „dass sie, obwohl sie ständig in den Lüften war, die Nase niemals hoch trug.“
„Adonis“, ich bückte mich zu ihm, „darf ich dich etwas fragen? Weiß sie, was du machst?“
Sein Blick bedeutete mir, „Machst du Witze?“
„Und sie ahnt nicht einmal was?“
„Sie geht in ihrer Arbeit völlig auf, mal fliegt sie nach Amsterdam, dann wieder nach New York. in den Pausen zwischen ihren Flügen und meinen Massagen halten wir uns zu Hause auf, heizen den Kamin, und dann habe ich das Gefühl, zu einer Familie zu gehören, als wäre ich wieder bei mir zu Hause, bei Mamachen.“
„Wie alt ist sie?“
„Dreißig.“
Wenn Frauen behaupten, sie seien dreißig, heißt das vierzig, dachte ich.
„Und fängst du nichts mehr mit jüngeren an, Adonis?“
„Nein, mit den jungen Gören hat man nur Scherereien. Die reifen Frauen wissen, was sie wollen.“
„Und du“, beeilte ich mich hinzuzusetzen, „bist mittlerweile sicherlich in einen Palast umgezogen.“
„Nein“, wehrte er ab, „ich habe immer noch die Garconnière in Makryjannis gemietet, und als fahrbaren Untersatz habe ich einen Sportwagen aus zweiter Hand. Andernfalls sehen und beurteilen die Menschen dich nur nach der Automarke.“
„Darf ich dich noch etwas fragen, Adonis?“
„Darauf kommt’s nun auch nicht mehr an, also frag, was du willst“, ließ seine Miene erkennen.
„Und wie geht das mit dem Geld, gibt man es dir auf die Hand?“
„Normalerweise werde ich von der Agentur bezahlt.“
„Das heißt also fifty-fifty?“
„Angeblich, aber man hat keine Kontrolle darüber.“
„Und die Kundinnen, geben die dir nicht manchmal etwas auf die Hand?“
„Nur in Ware, verschiedene kleine Präsente, was sie eben gerne geben.“
Er sagte das, als hätte man ihn als Bettler beleidigt.
„Natürlich“, sagte ich. „Und wie geht es dir mit deinem Mädchen, bist du nicht müde von den anderen?“
Ich mutete seiner Geduld einiges zu, aber offenbar hatte ihn die Leidenschaft des Bekennens erfasst, und die hatte zur Gänze ich entfacht.
„Kennst du eine Frau, die nicht befriedigt werden will? Andernfalls kippt sie dich doch auf den Müll.“
„Zweifellos“, sagte ich, „aber findest du Gefallen an ihr – wenn es dich nicht stört, dass ich dich das frage?“
„Ich sage dir, ich hatte am Anfang das Gefühl, mit einem Menschen zu schlafen, der zu mir gehört, den ich gewählt hatte. Mit der Zeit aber wurde es zur Gewohnheit und ich empfand nicht mehr viel.“
Das bereitete ihm offensichtlich Kummer.
„Und was machst du, wenn das so ist?“
„Ich mache die Augen zu und denke an andere. An verschiedene Frauen, die ich auf der Straße, auf Mofas sehe, wenn ihnen der Wind durch die Haare fährt und die Röcke hochwirbelt. An Frauen, mit denen man sich im Lift drängelt. An Frauen auf Videos.“
Seine Lider waren halb geschlossen, wie Gardinen, hinter denen Pornos ablaufen. Junge, Junge, so viele Frauen, und immer noch nicht satt!
Er blickte auf seine Uhr hinab. Auf seine goldene Rolex.
„Bist du in Eile, hast du wieder eine Verabredung?“
„Ich muss ans Telefon“, rechtfertigte er sich, „heute wird mich meine Freundin anrufen. Sie lässt es sich nicht nehmen, mir fortwährend Geschenke aus New York oder Hongkong zu bringen und ich muss ihr ständig sagen, ‚Lass das, werde endlich vernünftig.‘
„Wieso“, fragte ich verblüfft, „ sie ist doch deine Freundin oder nicht?“
Er lachte.
„Verstehst du nicht, Evripidis, wenn die anderen ganz wild darauf sind, mir verschiedene Kölnischwässerchen, Kettchen und Ringe zu schenken, werde ich am Ende auch noch sie für eine Kundin halten.“
Bei diesen Worten entspannte er sich etwas. Ich hatte ihn an den Schultern genommen, um ihn zu beruhigen.
„Und du, schenkst du ihr nichts?“
„Doch, doch“, beteuerte er, „neben meiner Kleidung tätige ich nur Ausgaben für sie und Takis. Der Rest geht auf die Bank.“
„Wer ist Takis?“
„Unser Jüngster“, lächelte er, „mein kleiner Bruder.“
Die Müdigkeit ließ ihn weicher erscheinen, seine Gesichtszüge wirkten friedfertiger, als wäre er bei sich zu Hause, zur Sommerzeit im Hof, in Gesellschaft seines Vaters, mit dem er sich über Kühlanlagen unterhält, während er sich eine Zigarette rollt.
„Eines bin ich sicher“, sagte ich, „dass du deine Arbeit perfekt ausführst und dass du all den Damen dienlich bist.“
„Die Wahrheit ist“, musste er zugeben, „ich sorge immer dafür, dass sie befriedigt sind und wenn möglich auch froh. Es ist etwas Großes, anderen Freude zu machen.“
So wie er redete, ging ihm selbst genau diese Freude ab.
„Sie können sich alle glücklich schätzen, wenn sie dir in die Hände kommen.“
Er sagte nichts. War ich etwa auch einer von denen, die ihm auf den Leim gingen, fragte ich mich. Wer konnte mir garantieren, dass hinter seinen Augenschlitzen und seiner Alabaster-Haut nicht ein kalter, gewissenloser Gigolo lauerte? Man konnte nicht ausschließen, dass er es auch mit Männern trieb.
„Sag, Adonis, sind deine ‚Kollegen‘ alle genauso schön?“
Fast hätte ich hinzugefügt ‚wie du‘, schluckte es aber.
„Ich weiß nicht“, er senkte seinen Blick, „steht es mir denn zu, über männliche Schönheit zu urteilen?“
In diesem Punkt musste er überempfindlich sein.
„Vergleichst du dich nicht mit anderen?“, beharrte ich.
„Nein. Wozu sollte das gut sein? Es reicht doch, wenn ich mit mir selbst zufrieden bin.“
Und das war er oft, daraus machte er kein Hehl.
„Du hast Prinzipien, was das angeht“, sagte ich, und wartete, wie er reagieren würde.
„Natürlich. Die habe ich von zu Hause.“
„Was wissen sie bei dir zu Hause?“
„Dasselbe wie meine Freundin, nämlich dass ich als Model arbeite.“
Ob Mo-del oder Bor-dell bleibt dasselbe, dachte ich bei mir.
„Sie vertrauen dir eben. So wie ich, obwohl ich dich erst zum zweiten Mal sehe. Du bist ein vertrauenswürdiger Mensch.“
Es blitzte in seinen Augen, sodass sie noch schmäler wirkten.
„Sei dir da nicht so sicher, Evripidis. Seit ich gelernt habe, die Wahrheit zu verbergen, traue ich mir nicht einmal mehr selbst.“
„Wie klug von dir, Adonis.“
Ich besprühte sein Haar mit Chinin und begann es einzumassieren.
„Sag, willst du nicht mein Stammkunde werden?“
Wie seine Damen, dachte ich, und hätte beinahe losgelacht. Er blieb stumm.
„Und dir“, fuhr ich fort, „ist dir noch nie eine untergekommen, die den Menschen in dir wahrnahm und dir so sympathisch war, dass du dich gerne enger an sie gebunden hättest?“
„Normalerweise suche ich so etwas zu vermeiden, aber es gibt eine Ausnahme.“
Das Chinin hatte ihn erledigt und er hatte sich mir überantwortet.
„Eine Fünfzigjährige in Papagou, Frau eines Offiziers. Wir landen nur selten im Bett, sondern machen Ausflüge mit ihrem Wagen und unterhalten uns. Sie will alles von meinem Leben wissen, wie ich als Kind war, welche Kleider man mir anzog, wie mein Vater und meine Mutter aussehen, welchem von beiden ich ähnle, nach meinem Brüderchen fragt sie, unentwegt fragt sie, diese Dame – wie du, Evripidis.“
„Und antwortest du ihr wie mir?“
Er beäugte mich von der Seite, um zu ergründen, worauf ich hinauswollte.
„Ich weiß nicht, aber mit der Zeit hat ihr Interesse meinen Widerstand besiegt, und sie zeigt mir deutlich, dass sie mich nicht nur wegen meinen Körper begehrt.“
Das also war sein wunder Punkt.
„Aber wenn ihr im Bett landet, was macht sie?“
„Sie entkleidet mich mit Vorliebe Stück für Stück. Hemd, Hose, Schuhe und spricht dabei. ‚Ach, was für eine Babyhemdchen haben wir denn da, was für schöne Söckchen und Kleidchen der Kleine doch trägt.‘“
„Was es nicht alles für Schrullen gibt!“, sagte ich. Hat die Dame keine Kinder?“
„Glaubst du, sie würde sich mit mir befassen, wenn sie welche hätte?“
„Nein, natürlich nicht“, pflichtete ich bei. „Und überweist dir die Dame zusätzlich Honorar auf dein Bankkonto, bezahlt sie dir die Versicherung für das Auto und den Garagenplatz?“
„Ja“, rief er aus. „alles. Warum fragst du, wenn du es ohnehin weißt?“
Sein Nervenkostüm schien schwer mitgenommen.
„Nur eines versteh ich nicht, Adonis, wie kam es zu diesen außerordentlichen Zuwendungen?“
„Okay, was willst du hören? Die sind alle aufs Geld versessen. Hätten sie weniger, hätten sie weniger Macken. Und außerdem“, er wurde leiser, „glaube ich, dass sie unter ihrer Einsamkeit leiden.“
„Während du deine Stewardess liebst.“
„Ich weiß nicht, ich bin mir nicht sicher“, sagte er matt, „wenn sie weit weg ist, möchte ich mich verankern, aber es fällt mir schwer, mich an eine Frau zu binden, da ich anderes gewohnt bin.“
„Das Herumstrolchen“, ergänzte ich.
Seine Schultern bebten unter dem Handtuch. Als hätte er Fieber oder als fehle ihm seine notwendige Dosis. Ich machte mit meiner Massage und er mit dem Erzählen weiter.
„Mein Traum wäre, nach Europa oder Amerika, zu gehen und ein neues Leben zu beginnen – was man so hört, sind die Gesellschaften Ausland besser und fairer.“
„Dort weiß man nicht, was ein Kafenio ist, und man kennt das ziellose Herumflanieren nicht. Es bleibt einem nur das Wochenende, an dem man sich zu mehreren in einen Volkswagen quetscht. Wie lange gedenkst du, diesen Job auszuüben, Adonis?“
„Die Zinsen mehren sich“, und irgendwann wird der Gelbbeutel voll sein.“
„Vielleicht verausgabst du dich dabei?“
Ich ließ mein Rasiermesser beinahe zärtlich über seinen Nacken gleiten.
„Wenn mein Körper nicht mehr kann, wird es mein Kopf schon merken.“
Er sprach in Rätseln.
„Schreckt dich das, Evripidis?“
Vielleicht bereitete es ihm ja Vergnügen, mich zu ängstigen.
„Nein“, erwiderte ich, „in meiner Jugend habe ich auch Verschiedenes ausprobiert, jeder Mann tut das, sofern die Bildung ihn nicht daran hindert.
„Du meinst, wenn ich gebildet wäre, wäre das ein Hindernis?“, fragte er wie ein kleiner Junge.
„Sicher“, sagte ich, „du wärst ein brotloser, ausgehungerter Eierkopf.“
„Was ist mit dir“, fragte er, „warum bist du Herrenfriseur geworden?“
„Um Männer schön zu machen“, antwortete ich.
Er schaute verwundert.
„Macht es dir etwas aus?“, fragte er.
„Was?“
„Dass ich dir das alles erzähle.“
„Deswegen bist du doch gekommen, Adonis“, sagte ich zu ihm geneigt. Weißt du, wir Friseure sind Menschen, denen man sich anvertraut. Was hab ich nicht alles vom Leben meiner Kunden erfahren! Ich hätte ein Buch schreiben können.“
Er schlüpfte in sein Jackett, setzte die dunkle Brille auf und stand auf, um mich zu bezahlen. Jetzt kam er mir wie ein ganz normal junger Mann vor, etwas bleicher, magerer und schlitzäugiger, aber bei aller Nervosität ruhig. Als hätten ihn seine Bekenntnisse auf ein normales Maß zurechtgestutzt. Er wirkte weder sonderlich bestimmt noch so perfekt, wie ich ihn mir in meine Phantasie ausgemalt hatte. Eines Tages ist alles vorbei, so meine Gedanken, die Jugend, die Schönheit, nur das nackte Leben bleibt, keine Freunde und Verwandte, nicht einmal Gott. Adonis steckte die Hand in die Tasche. Sein Geld verdiente er leicht und ebenso leicht gab er es wieder aus.
„Und wenn du nicht ins Ausland gehst, Adonis, was wirst du dann tun?“
„Was wohl. Ich gehe nach Aegaleo zurück und werde dort ein Geschäft aufmachen.“
„Warum ausgerechnet in Aegaleo?“
„Dort bin ich zu Hause, dort gehöre ich hin.“
Ich begleitete ihn zur Tür. Das herbstliche Licht machte ihn weicher, aber bleich und traurig war er dennoch. Ich blickte ihm nach, bis er wieder zum Schatten wurde. Ich staune noch immer, was er mir alles gebeichtet hat, es musste sich eine Menge in ihm aufgestaut haben. So leichtgewichtig er war, so schwer musste ihm ums Herz sein. Wenn die Gesellschaft die Arbeit abschafft und der Mensch seiner wahren Natur lebt, besteht Hoffnung, dass die Welt sich bessert. Dass sie nicht gesetzeswidrig handelt. Wenn seine Natur gigolohaft ist und er sich eben nur so ausdrücken und finden kann? Tun nicht alle Künstler dieser Welt das Gleiche? Leben sie nicht alle gegen die Gesetze? Ein Künstler ist auch er, auf seine Art.
* * *
ES WAR ACHT UHR MORGENS, und ich hatte eben meinen Laden aufgesperrt. Tiefer Winter herrschte, und ein Wind blies wie aus Sibirien kommend. Bei solchem Wetter kreist mein Sinn um düstere Dinge. Vielleicht war ich deswegen keineswegs überrascht, als ich zunächst seinen Schatten und anschließend ihn selbst bemerkte. Er war, vom Scheitel bis zur Sohle pechschwarz, nur sein Hemd war weiß. Hatte er auf Totengräber umgesattelt? Wortlos klappte er seine schwarze Brille zusammen –anscheinend trug er sie auch nachts – und ließ sich in den Stuhl gleiten wie ein alteingesessener Pflegling. Diesmal behielt er sein Jackett an, das um die Schultern fleckig war.
„Schuppen“, fragte ich, aber er gab keine Antwort.
Sein Haar war überhaupt in schlechtem Zustand, sein Gesicht noch bleicher, seine Augen eingesunken und von dunklen Ringen umgeben. Welche blutsaugenden Lamien mochten ihn denn derart zugerichtet haben?
„Soll ich Kaffee kommen lassen? – Ich werde dir einen bestellen, auch wenn du ihn nicht trinkst.“
Ich fragte ihn, wie die Geschäfte gingen, und er fragte mich, ob ich Kundschaft hätte. Es fiel mir auf, dass er keine Manschetten trug.
„Was ist mit deiner Uhr?“
„Ich habe sie ruiniert“, erwiderte er trocken.
„Als unser Kaffee kam, weigerte er sich standhaft, ihn zu trinken.
„Nein, Evripidis, Kaffee und Zigaretten sind gestrichen, der Arzt hat’s mir untersagt.“
„Du brauchst jetzt schon einen Arzt, in deinem Alter?“ rief ich verwundert.
„Anfangs kam mir das auch merkwürdig vor, aber ich habe mich in letzter Zeit nicht sehr wohl gefühlt.“
„Du machst dich kaputt, das habe ich dir schon gesagt, du musst eben leiser treten.“
Ich schnitt ihm schweigend das Haar, und er ließ es ebenso schweigend über sich ergehen.
„Ich möchte, dass du mir ein letztes Mal die Haare schneidest“, sagte er bald darauf, „morgen muss ich zu Untersuchungen ins Krankenhaus.“
Es überkam mich ein Schaudern. Es musste irgendwo hereinziehen, vielleicht hatte ich ein Fenster offen gelassen.
„Zu den Friseuren im Krankenhaus habe ich kein Vertrauen“, fuhr er fort, „das sind Krankenpfleger, die dir ihr Schneidewerkzeug aufs Geratewohl durch die Haare ziehen.“
„Weswegen trägst du eine schwarze Krawatte?“ hatte ich von Beginn an wissen wollen.
„Ich habe meinen Vater verloren.“
„Möge sein Tod dir Leben bringen! War er alt?“
„In den Siebzigern. So alt werden wir nicht.“
Was sollte das heißen, wir? Meinte er sich und seine Freunde, die denselben Beruf ausübten?
„Sag so etwas nicht, du siehst blendend aus, bei dem Fortschritt der Medizin kann man in deiner Generation hundert Jahr alt werden.“
In seinem Blick lag Bitterkeit.
„Siehst du denn nicht, wie ich beisammen bin, erst vorgestern musste ich zwei Rendezvous absagen.“
„Ist dir das zum ersten Mal passiert?“
„Zum zweiten Mal, und damit es kein drittes Mal wird, lasse ich die Untersuchungen machen.“
„Kannst du die nicht in einem mikrobiologischen Labor machen lassen?“
„Habe ich bereits, und es stellte sich heraus, dass der Hämatokritanteil niedrig ist und die weißen Blutkörperchen erhöht sind.“
„Wie fühlst du dich wirklich, Adonis“, fragte ich sanft, um ihn nicht aufzuscheuchen.
„Matt, und Gewicht habe ich verloren. Jede Nacht träume ich denselben Traum: Jemand versucht, mit dem Schlüssel das Schlüsselloch zu ertasten und schafft es nicht, ihn hineinzustecken.“
Unsere Augen trafen sich. Die schönsten Verständigungen mit meinen Kunden stelle ich über Blicke her.
„Was macht deine Freundin?“, fragte ich, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
„Heute fliegt sie nach New York. Wenn ich sie nicht hätte, wäre ich schon in der Klapsmühle.“
„Worüber sprecht ihr?“
„Über die 42. Straße, den Times Square, den Mississippi, die Baumwollpflanzungen.“
Wie er das auswendig hersagte..
„Und sie sorgt sich nicht um deine Gesundheit?“
„Ich scheue mich, ihr die Wahrheit zu sagen.“
Hast du Worte? Für seine angeschlagene Gesundheit schämte er sich, aber für seine krankhaften Beziehungen zu Frauen nicht.
„Sollte deine Mutter es nicht wenigstens wissen?“
„Ja, wenn sie sich vom Tod meines Alten erholt hat.“
„Und Agisilaos?“
„Der hat keinen Ahnung, ich habe ihn ‚aus familiären Gründen’ um vierzehn Tag Urlaub gebeten und er meinte bloß: ‚Schon wieder?’“
„Und Takis, dein kleiner Bruder?“
„Er wäre der letzte, den ich damit belasten würde.“
Gedrückte Stimmung hatte sich in meinem Laden breit gemacht. Der Winter ist, scheint’s, für solche Gespräche denkbar ungeeignet.
„Du bist in einem Erschöpfungszustand. In einem Monat bist du wieder fit. Und dass du mir nirgendwo anders hingehst“, mahnte ich, „du kommst gefälligst zu mir, um dich schön machen zu lassen.“
„Schön“, höhnte er, „kannst du mich vielleicht gesund machen?“
Die Menschheit, die sich im Spiegel betrachtet, erkennt sich selbst nicht. Ich näherte mein Gesicht dem seinen.
„Hör zu“, flüsterte ich nahe an seinem Ohr, „ich weiß ja nicht, wie das in Amerika ist, aber in Griechenland ist der Friseur gleichzeitig Arzt, verstehst du?“
„Mach dir um mich keine Sorgen“, sagte er doch glatt, „du siehst mich erst das dritte Mal.“
„Und werde dich noch viel Male sehen. Vergiss nicht, dass wir Freunde geworden sind.“
Seine Augen wurden feucht.
„Evripidis, darf ich dich um einen Gefallen bitten?“’
„Um wenn es tausend wären!“
„Gib mir deine Telefonnummer, jetzt, da ich hinein muss, brauche ich jemanden zum Reden, verstehst du das?“
Wie denn nicht.
„Ich soll dir meine Telefonnummer geben?“, fragte ich unwillig, „du wirst sie nicht brauchen. Bald bist du wieder bei deinen Damen. Wer hat schon solches Glück wie du Filou, über einen ganzen Harem zu verfügen?“
Eine Grimasse des Abscheus lief über sein Gesicht. Ich legte ihn die Hände auf die Schultern.
„Ich sagte dir doch, als Männer können wir offener reden. Ist es nicht so, Adonis?“
„Ich heiße nicht Adonis“, sagte er.
„Wie auch immer du heißt, setzte ich nach einer Schrecksekunde fort, „für mich ändert sich nichts.“
Schweigen. Eine Wolkendecke hatte sich neuerlich über uns gelegt. Als stünde die Luft still. Ich beeilte mich, den Haarschnitt zu Ende zu bringen und wünschte ihm, nicht sehr überzeugt, alles Gute. Er zog den Geldbeutel heraus, um mich zu bezahlen.
„Lass es gut sein, Ärmster, du hast nun Ausgaben genug für Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte, bezahl ein ander Mal.“
„Auf Pump geht in meinem Beruf nichts, und so soll es auch hier sein“, und stopfte mir die Geldscheine in die Brusttasche.
Ich begleitete ihn zur Tür.
„Und rufe mich ruhig an“, rief ich ihm in letzter Sekunde nach.
Ich sah ihn in der Menge untertauchen. Alle waren in Mäntel gehüllt, Atemfahnen schlugen ihnen aus dem Mund, und er, biegsam und rank wie eine Gerte, trug nur einen Anzug.
* * *
WOCHEN VERGINGEN. Im Leichenbestattungsinstitut nebenan herrschte reges Kommen und Gehen. Bei mir Flaute. Es kam und ging niemand. Irgendwann läutete das Telefon. Ich zucke immer zusammen, wenn der Apparat schrillt, aber an jenem Tag traf es mich wie ein Stromschlag.
„Sind sie Herr Evripidis“, fragte eine weibliche Stimme.
In meinem Geschäft rufen nur selten Frauen an.
„Der bin ich in der Tat“, versicherte ich, „was verschafft mir die Ehre?“
„Ich habe einen Sendeauftrag, bitte geben Sie mir Ihre Adresse, wir werden ihnen ein Päckchen zukommen lassen.“
„Von wem ist das Päckchen, Fräulein?“
„Von einem ihrer Kunden.“
„Und wer sind Sie?“
„Eine Bekannte von ihm.“
Es war zwecklos, weiterzufragen. Wie beim Blassen selbst. Wir hängten ein.
Ich hatte das Telefonat vergessen, der Frühling hielt Einzug mit seinem Sonnenschein, der dich am Bart kitzelt, als der Briefträger eines Mittags an meine Fensterscheibe klopfte. Dreimal. So klopft das Schicksal an, sagt man.
„Evripidis, ein Paket für dich.“
Ich unterschrieb den Zustellungsschein. Eingepackt und fest verschnürt, lag das Päckchen herausfordernd auf meinem Arbeitstisch. Ich konnte es kaum erwarten, bis der letzte Kunde gegangen war.
Just als ich es aufschnüren wollte, steckte die alte Füchsin ihre Schnauze zur Tür herein. Es gibt nichts Unangenehmeres, als wenn jemand im kritischen Moment hereinplatzt.“
„Guten Tag, Evripidis, der Frühling ist da, hast du gesehen, wie schön die Sonne scheint?“
Sie stand auf einem Bein, wie ein Storch.
„Hat dich der Briefträger angetroffen?“
Ich sah sie an und schwieg.
„Hast du etwas?“, fragte sie, „kann ich etwas für dich tun?“
Grabesstille von meiner Seite.
„Du, wie geht es denn deinem Kunden, du weißt, wen ich meine. Er war schon monatelang nicht mehr hier.“
Ihr Blick heftete sich an die Stelle, wo das Päckchen lag.
„Da“, sagte ich, zog den Inhalt heraus und wedelte damit vor ihrer Nase, „eine Haarlocke von ihm!“
Sie wich entsetzt zurück, und ich riegelte die Tür ab, indem ich den Schlüssel zweimal umdrehte. Draußen war Frühling, und die Sonne strahlte wie eine goldene Rolex.
Aus: Menis Koumantareas, Mein fantastischer Frisiersalon. Episodenroman,
[Originaltitel: Η μυρωδιά τους με κάνει να κλαίω],
Göttingen, C.A. Hainholz Verlag, 2002.
Übersetzt und neu bearbeitet von Luna Gertrud Steiner