#Editorial
04.05.2015
„Die größte Illusion ist die Vorstellung, dass sich alles andere von allein ergeben wird, wenn nur die Wirtschaft blüht. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern blühten wie kaum sonst zwischen Ländern. Klassisches Beispiel hierbei ist der Tourismus. Hat das die beiden Völker einander näher gebracht? Das glaube ich nicht. Ich könnte, um ein wenig zu provozieren, sogar behaupten, dass teilweise vielleicht sogar das Gegenteil der Fall ist.“
Dies ist eine der Kernbehauptungen der Lyrikerin, Übersetzerin und Mitarbeiterin im Nationalen Zentrum für Sozialforschung in Athen (ΕΚΚΕ) Maria Topali in einer Rede am 5. November 2014 im Rahmen des „deutsch-griechischen Jugendforums“, die wir hier wiedergeben.
Will es nicht von selber gehen oder: Warum in den deutsch-griechischen Beziehungen (enorm) viel zu tun bleibt
Ich möchte die Gelegenheit, die sich mir heute bietet, nutzen, um vor einem deutsch-griechischen Publikum in einer Art und Weise zu sprechen, wie ich es mir bis heute nie erlaubt habe, es in einer öffentlichen Rede zu tun. Mit anderen Worten beginne ich, indem ich reale Geschichten erzähle. „Erlebte Geschichten“, wie man zu sagen pflegt. Und zwar, ohne dass ich – nicht einmal als fadenscheinigen Vorwand – den persönlichen Unterton noch den subjektiven Ansatz unterdrücke. Auch werde ich ausnahmsweise zulassen, dass die emotionale Seite spürbar wird.
Der Lebenslauf
Nur einige wenige Worte zu meiner Person – denn es gehört sich, dass Sie erfahren, was mich dazu legitimiert, heute über die deutsch-griechischen Beziehungen zu Ihnen zu sprechen. Ich begann 1975 im Alter von elf Jahren in meiner Heimatstadt Thessaloniki Deutsch zu lernen. Mit zwölf kam ich in die 7. Gymnasialklasse der Deutschen Schule Thessaloniki. Die Deutsche Schule Thessaloniki ist eine sehr alte Schule, sie wurde 1888 gegründet, das heißt lange bevor Thessaloniki Teil des griechischen Staates wurde. Heute ist meine ältere Tochter, 14 Jahre alt und Schülerin der Deutschen Schule Athen, einer ebenso alten, wenn auch weniger alten Schule als die von Thessaloniki, da sie erst 1896 von Wilhelm Dörpfeld, dem berühmten Archäologen, gegründet wurde.
Ich habe Rechtswissenschaften in Athen studiert und mein Studium in Frankfurt fortgesetzt, wo ich meine Dissertation im Bereich des Internationalen Umweltrechts verfasste. Mein dreijähriger Aufenthalt in Deutschland (1991-1994) wurde mir durch ein Stipendium der Daimler und Benz Stiftung ermöglicht.
Nach meiner Rückkehr nach Griechenland war ich im Nationalen Zentrum für Sozialforschung beschäftigt, wo ich bis heute arbeite. Parallel dazu war ich drei Jahre, von 1998 bis 2001, die Leiterin des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in meinem Land. Ich habe mich außerberuflich aber auf permanenter Basis mit der Übersetzung aus dem Deutschen ins Griechische befasst und von 2006 bis 2007 das Übersetzen von deutscher Lyrik am Europäischen Zentrum für literarisches Übersetzen (griechisch: EKEMEL) unterrichtet.
Und nun zurück zu den versprochenen Geschichten, zu den „erlebten Geschichten“. Ich werde Ihnen drei kurze Geschichten aus der Zeit vor der Krise erzählen. Also aus jener Zeit als vermeintlich keine Wolken den Himmel unserer deutsch-griechischen Beziehungen oder auch unserer europäischen Koexistenz trübten. Merken Sie sich bitte das Wort „europäische“. Denn ich bin der Auffassung, dass die deutsch-griechische Frage und ihre Problematik keine bilaterale Angelegenheit ist, sondern eine zutiefst europäische.
Die ersten zwei Geschichten sind aus erster Hand, die dritte wurde mir erzählt.
Erste Geschichte – 1999
Im Rahmen meiner Arbeit für die Friedrich-Ebert-Stiftung war ich mit der Vorbereitung des Besucherprogramms einer deutschen politischen Delegation in Griechenland beschäftigt. Ich bemühte mich, ein dichtes und umfassendes Programm zu gestalten. Die deutschen Teilnehmer hätten so die Gelegenheit bekommen, hochrangige griechische Politiker und Technokraten zu treffen und sich angemessen über ausschlaggebende Fragen zu informieren, wie zum Beispiel über den Konvergenzkurs Griechenlands zum Euro.
Mit großem Aufwand schaffte ich es, eine Reihe von Treffen mit Personen zu organisieren, die ein „heftiges“ Arbeitspensum, hohe Arbeitsbelastung und großen Stress hatten. Im Laufe des Besuchs sagte mir dann einer der sympathischeren deutschen Delegationsmitgliedern: „Das Programm, das du zusammengestellt hast, ist ausgezeichnet. Aber du bist mir zu Deutsch. Wir wollen die Griechen schon ein wenig gelassener, lockerer“.
Zweite Geschichte – 2002
Ich war auf einem Deutschlandbesuch und zwar als Lyrikerin. Ich gehörte einer aus sechs griechischen Lyrikerinnen und Lyrikern bestehenden Gruppe im Rahmen des herausragenden Projektes „Poesie der Nachbarn“ an, das seit einer Reihe von Jahren im Künstlerhaus Edenkoben durchgeführt wird. Wir waren nach Deutschland gekommen, um an einer deutsch-griechischen Übersetzerwerkstatt teilzunehmen und unsere eigenen Gedichte öffentlich vorzutragen.
Da kam ein Journalist vom Deutschen Rundfunk – ich glaube, vom WDR – und wollte uns interviewen. Die Griechen holten mich nach vorn – ich war ja die Einzige aus der Gruppe, die deutsch sprach – um als erste zu sprechen und danach für die anderen zu dolmetschen. Der Journalist wollte als erstes wissen, ob ich als Griechin eine besondere Beziehung zur griechischen Antike und zur griechischen Mythologie hätte, da er unter meinen Gedichten auf eines mit dem Titel “Der dritte Sohn von Ödipus“ stieß.
Ohne groß zu überlegen, antwortete ich ihm spontan: „Ich kenne Ödipus, genauso wie Sie, vorwiegend über Sigmund Freud“. Zwei der drei griechischen Dichter haben ab diesem Moment nie mehr mit mir geredet, der dritte – er ist nicht mehr am Leben – sprach später mit mir in einem freundlichen, väterlichen Ton, um mir zu erklären, dass „alle Deutschen im Grunde Faschisten sind“.
Wir saßen, ich und er, auf dem Rücksitz eines deutschen Luxuswagens, den uns unsere Gastgeber gemietet hatten, und waren auf dem Weg zu einem wunderbaren Abschiedsabendessen, das unsere Gastgeber für uns gaben. „Siehst du denn nicht, wie toll sie uns aufgenommen haben und sich um uns kümmern, wie ausgezeichnet die ganze Übersetzerwerkstatt verlaufen ist, wie sehr sie sich bemühen, damit alles für uns perfekt ist?“, entgegnete ich ihm erstaunt. „Du bist noch jung“, sagte er zu mir in hochtrabendem Ton. „Sie kümmern sich so gut um uns, weil sie eben Faschisten sind. Das wirst du später verstehen.“
Dritte Geschichte – gegen Ende der 90er Jahre
Die folgende Geschichte ist aus zweiter, wenn auch sehr glaubwürdiger Hand. Meine Freundin Ch. war nach Deutschland, nach Stuttgart, gekommen, um klassischen Gesang zu studieren. Sie stellte fest, dass im Programm der Musikakademie Theorie- und Harmonieunterricht vorgesehen war. Diesen hatte sie bereits am griechischen Konservatorium, das sie als Jugendliche neben ihrer Schulausbildung besuchte, absolviert. Sie wurde gebeten, den Nachweis zu erbringen, indem sie bestimmte Übungen am Klavier ausführte. Als sie es tat, riefen die Professoren, tief beeindruckt und wie aus einem Munde: „Wo haben Sie denn so gut Harmonie gelernt? Doch nicht in Griechenland!“
Ich fürchte, dass ich zahlreiche solche Geschichten auf Lager habe und ich möchte Sie nicht weiter damit strapazieren.
Nun möchte ich mir zwei – drei Bemerkungen erlauben, die an das bereits Gesagte anknüpfen:
Erste Bemerkung: Die Beispiele der „Geschichten“ stammen alle von jenen Personengruppen, die man als „Elite“ bezeichnen würde, mit anderen Worten von Menschen mit höherer Bildung, von weltoffenen, gut informierten, lesenden bzw. reisenden Menschen. Mit nur wenig Phantasie kann man vor seinem geistigen Auge ähnliche Szenen in unterschiedlichen sozialen Kontexten abspielen.
Zweite Bemerkung: Die Beispiele zeigen uns, wenn wir sie verallgemeinern wollen (und das werden wir an dieser Stelle tun, unter dem Vorbehalt der wissenschaftlichen Dokumentation bzw. der Widerlegung solcher Verallgemeinerungen), was VOR der Krise galt.
Dritte Bemerkung: VOR der Krise verspürte niemand Lust, sich solche Geschichten anzuhören. Sie waren also bekannt, aber es gab in der Öffentlichkeit dafür keinen Raum. Wir wollten all das nicht wissen. Wir kehrten diese Geschichten unter den Teppich, wie man es mit dem Staub und dem Dreck tut, den man nicht aufwirbeln will. Wir versteckten sie im Keller, wie man es mit Leichen tut, die man nicht begraben kann, ohne die Kraft zu haben, sich mit ihnen zu messen.
Dann kam die Krise…
… und seitdem ist nichts mehr wie früher. Die Leichen waren aus dem Keller hochgestiegen, und der Müll füllte den Raum. Das Atmen fällt einem schwer. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb wir heute hier sind.
Es gibt eine ernsthafte Theorie, die besagt, dass die Massenmedien in beiden Ländern einen großen Anteil der Verantwortung tragen. Der mediale Wutausbruch war in der Tat eine sehr unschöne Überraschung vor allem für diejenigen unter uns, die sich zwischen diesen beiden Ländern hin und her gerissen fühlen. Für mich persönlich – und ich bin überzeugt, dass ich hierbei im Namen vieler spreche – waren die verbale rassistische Gewalt, die Beleidigungen, die Erniedrigung, die Gespenster und Fossilien, die im Laufe der Krise aus den journalistischen Lippen und journalistischen Federn der Deutschland-Griechenland-Achse auferstanden sind, eine schmerzhafte Widerlegung von Überzeugungen und Gefühlen.
Geschichten wie die oben erwähnten, die wir uns früher in unserem gemischten, deutsch-griechischen Freundeskreis erzählten, um darüber zu lachen, drohten zum Kanon zu gehörten. Man sollte vielleicht an der Stelle sagen, dass ähnlich wie bei den Geschichten, die ich Ihnen erzählte, auch im Falle der Medien die große Enttäuschung für mich nicht etwa von der Boulevardpresse kam. Von der Seite war so etwas, wenn Sie so wollen, fast zu erwarten. Die schmerzhafte Enttäuschung – und ich spreche jetzt direkt die deutsche Medienlandschaft an, Rundfunk und Fernsehen – kam in allererster Linie von den seriösen Medien.
Hier lag das Problem nicht allein in der Reproduktion von billigsten und gröbsten Stereotypen. Nein, die heftigste kalte Dusche war, zumindest für mich, eine andere.
Griechenland, eine kleine Insel irgendwo im Südpazifik
Einen kleinen Vorgeschmack bekam ich, das gebe ich zu, auch hierbei vor der Krise. Es war während der Ausschreitungen im Dezember 2008, als nach der Ermordung eines Schülers durch einen Polizisten heftige Demonstrationen und Vandalismus im Zentrum von Athen ausbrachen. Ich saß vor meinem Computerbildschirm und spielte, mehr aus Neugierde, mit den Internetseiten der englischsprachigen Nachrichtensendern herum. Die BBC war so weit von der Realität entfernt, dass ich es nicht fassen konnte.
Deutschland-affin wie ich bin, dachte ich sofort, dass so etwas „nie in der ernsthaften deutschen Presse möglich sein könnte“. Ich rannte los, um mir die Zeit zu kaufen – um eine weitere schmerzhafte Überraschung zu erleben. Der Reporter hatte es geschafft, nicht tausend, nicht einige wenige Tausend sondern Hunderttausende Demonstranten zu erkennen – und wo? Auf dem Bezirksfriedhof, wo der unglückliche Jugendliche zu Grabe getragen wurde. Eine Sache der Unmöglichkeit, versteht sich.
Unmöglich und unvorstellbar. Eine unvorstellbare Zahl sogar bei den größeren Kundgebungen im Zentrum der Stadt. Schon zu jenem Zeitpunkt begann ich zu ahnen, dass wir wohl voneinander sehr viel weiter entfernt waren, als ich es wahrhaben wollte und als es auch unsere seit Jahrzehnten andauernde gemeinsame europäische Koexistenz rechtfertigen würde.
„Hunderttausende“ für einen Jugendlichen… An jenem Tag bekam mein Vertrauen Risse. Und lassen Sie mich an dieser Stelle anmerken, dass Die Zeit für mich unantastbar ist. Für mich ist sie „die“ Zeitung, die ich schon seit Studienzeiten abonniert hatte, um in Kontakt treten zu können mit einer Welt, die ich zu einem großen Maße idealisiert hatte.
All das war natürlich harmlos, verglichen mit dem, was ich in der Zeit während der Krise zu lesen bekam. Den Rekord, wenn es um Fehlinformation geht, hielt, so meine ich, die FAZ, deren Korrespondent von Evangelos Venizelos als Finanzminister berichtete, obwohl dieser Monate zuvor von diesem Amt zurückgetreten war, um den Vorsitz der PASOK einzufordern.
Und diese Berichterstattung fand nicht zu irgendeinem beliebigen Zeitpunkt statt, sondern während der kritischen Wahlen vom 6. Mai 2012, als Athen Fernsehteams und Journalisten aus Aserbaidschan, Mexiko und Korea beherbergte, als die Augen der gesamten Welt auf Griechenland gerichtet waren (die Inkorrektheit wurde in der elektronischen Fassung der Zeitung korrigiert, nach entsprechendem Hinweis). Wir wurden also unter die Lupe genommen, und die Lupe erwies sich als defekt bzw. voller Ungenauigkeiten.
Es ereignete sich übrigens etwas völlig Absurdes: Während noch kurz vor der Krise niemand die leiseste Ahnung hatte, wussten kurz nach Ausbruch der Krise plötzlich alle bestens Bescheid – darüber, wer der Schuldige war, über das Wie und das Warum.
Die allgemeine Vorstellung von griechischer Seite war, dass Deutschland ein böser, schonungsloser Dämon ist. Die entsprechende Auffassung der deutschen Seite war, dass Griechenland ein Dritte-Welt-Land ist, ein Land voller Diebe und schlauer Gauner und Betrüger, das von der Pike auf gestaltet werden muss, und das mit großem Vorbehalt.
Dies hat sich besonders klar zum Beispiel in der Art und Weise gezeigt, wie die Frage der Reformierung des Staates behandelt wurde. Die Tatsache, dass von einem Land die Rede ist – und ich beziehe mich ein weiteres Mal auf einen Artikel in der FAZ mit dem Titel „Land ohne Staat“ – das den Übergang von der Diktatur in die Demokratie geschafft hat und zwar reibungslos und ohne Blutvergießen. Der Beitritt in die EWG, später EU, die es seit über dreißig Jahren nun bestens mit Personal ausstattet (ich spreche von der europäischen Bürokratie in Brüssel, in Straßburg und anderswo), blieb beeindruckender Weise unerwähnt.
Um es anders zu formulieren, es hat sich das Unvermögen beider Seiten zu differenzierter und nuancierter Reflexion gezeigt. Die zugrunde gelegten Modelle waren grobschlächtig, einfältig, fast mittelalterlich. Und doch. Wir befinden uns im Vereinten Europa des 21. Jahrhunderts.
Wir hörten und hören viele und sehr laute Stimmen. Um präzise zu sein, wir hören alle und jeden, außer jene, die tatsächlich etwas zu sagen hätten, zum Beispiel die große Zahl der Menschen (und nun SIND es tatsächlich Tausende, wenn auch nicht „Hunderttausende“) mit einer doppelten, gemischten, hybriden, oder wie auch immer man sie nennen mag, Identität. Ich meine Griechen und Deutsche aber auch Griechen-Deutsche und Deutsch-Griechen, die durch Schicksal oder durch eigene Entscheidung sich als zwischen den beiden Ländern gespalten wahrnehmen.
Sehr oft habe ich mir überlegt, dass man, wenn man zehn bis zwanzig Interviews mit solchen Menschen machen würde, man sowohl den besseren Spiegel als auch die besseren Vorschläge erhalten würde. Doch mich beschleicht die Ahnung, dass diese Menschen die letzten sein werden, die gefragt werden, und somit wird wertvolle Zeit und Geld vergeudet.
Als bezeichnendes Beispiel eines außerordentlich feinfühligen und tiefen Einblicks in die deutsch-griechischen Befindlichkeiten sticht unter anderem das Buch von Alexandros Stefanidis heraus: Beim Griechen. Wie mein Vater in unserer Taverne Geschichte schrieb. (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010).
Der dunkle Nährboden
Ich habe schon darauf angespielt, dass die Krise auf einem Untergrund zu „blühen“ begann, der schon dunkel, schon belastet war.
Anders hätten die Massenmedien nicht die negative Rolle spielen können, die sie während der Krise gespielt haben. Es verhielt sich genauso, wie es die Sprache, und zwar beide Sprachen, vortrefflich zum Ausdruck bringen: der Nährboden für Ressentiments und zwiespältige Stereotypen war gefunden.
Will heißen? Will heißen, dass viel zu tun bleibt, was noch nicht getan worden ist.
Und ich glaube, dass dies bis zu einem gewissen Grad für die gesamte EU zutrifft – wobei der deutsch-griechische Kontext ein nützliches Beispiel dafür ist, was im europäischen Projekt alles daneben gehen kann.
Die größte Illusion – und darauf zielt auch der Titel meines Vortrags – ist die Vorstellung, dass sich alles andere von allein ergeben wird, wenn nur die Wirtschaft blüht. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern blühten wie kaum sonst zwischen Ländern. Klassisches Beispiel hierbei ist der Tourismus. Hat das die beiden Völker einander näher gebracht? Das glaube ich nicht. Ich könnte, um ein wenig zu provozieren, sogar behaupten, dass teilweise vielleicht sogar das Gegenteil der Fall ist.
Es ist nachvollziehbar, dass die Touristen in den riesigen Hotelanlagen beispielsweise, deren einziger Kontakt die Angestellten der Gastronomie und die archäologischen Stätten sind, die „Griechen“ als genau das sehen: nämlich als Kellner und Antikenwächter. In einem derartigen kollektiven Bewusstsein gibt es natürlich keinen Platz für einen gleichwertigen europäischen Partner.
Taucht nun vor diesem Hintergrund die Krise auf, dann ist es ein Leichtes, die Kellner, die Wächter in den antiken Stätten, warum nicht auch die Tavernenbesitzer als schlitzohrige kleinere oder größere Gauner zu dämonisieren. Nur schwer würde man dieses gleiche Bild einem innovativen Wissenschaftler bzw. Forscher, einem Banker oder einer europäischen Führungskraft zuschreiben.
In diesem Zusammenhang könnte man tatsächlich über die wichtige Rolle des Öko-Tourismus nachdenken. Im Gegensatz zum All-inclusive-Massentourismus, der die Menschen durch Zeit und Raum transportiert, indem er sie abgeschottet von allem Trennenden hält, könnte der Öko-Tourismus neben allen anderen positiven Auswirkungen, die er für die nachhaltige Entwicklung und den Umweltschutz mit sich bringen würde, sicherlich auch zu einer tatsächlichen Annäherung der beiden Völker beitragen. Dasselbe würde auch gelten, wenn man sich dem archäologischen Tourismus mit einer modernen und konstruktiven Einstellung annähern würde.
Ich sprach unter dem Motto „Kellner – Antikenwächter – Tavernenbesitzer“ über ein Stereotyp, das auf deutscher Seite Konjunktur hat. Es ist mindestens so zutreffend, wie die Behauptung, dass alle Deutschen Wurst und Kartoffeln essen bzw. Bier trinken und Lederhosen tragen.
Ihrerseits finden sich die Griechen gerne in diesem gewinnbringenden Zerrbild wieder. Es ist aber so: It takes two to tango. Die Stereotypen sind auf beiden Seiten fest verankert, und wer sich ihnen verweigert, hat das Nachsehen.
Die Relikte aus der Besatzungszeit und die antideutschen Ressentiments
Anfangs hat uns eventuell die Leichtigkeit irritiert, mit der die griechischen Medien vulgäre Bilder mit Nazisymbolen reproduzierten. Mehr allerdings sollte uns die Tatsache überraschen, dass in einer jüngst erstellten zuverlässigen Meinungsumfrage die Deutschen an zweiter Stelle stehen unter den Völkern, die die Griechen zu ihren „Feinden“ zählen (es handelt sich um eine durch das Forschungsinstitut Public Issue im Jahr 2013 durchgeführte Umfrage, die von ELIAMEP (Hellenic Foundation for European & Foreign Policy) in Auftrag gegeben wurde und unter der wissenschaftlichen Betreuung von Professor Ioannis Armakolas, Universität Makedonien, durchgeführt wurde.
Man fragt sich: Ist es möglich, dass die Relikte des Krieges und der Besatzung nach so vielen Jahrzehnten der friedlichen Koexistenz und Kooperation aktuell bleiben? Lassen Sie uns aber die Frage anders stellen: Was ist in all den vergangenen Jahren passiert, damit die schmerzhafte Erinnerung zum Gegenstand von Aufarbeitung und zum Nährboden für das Gedeihen der europäischen Freundschaft wird? Welche Initiativen wurden zur Heilung der Wunden ergriffen?
Ich weiß nicht, ob es nach dem Krieg derartige Initiativen beispielsweise bei den deutsch-französischen Beziehungen gegeben hat. Ich erinnere mich an einen deutschen Lehrer, es war in den 90er Jahren, den ich auf der griechischen Insel Patmos kennenlernte, und der uns von einem Projekt der gegenseitigen Annäherung und Freundschaft zwischen den Schulen in den Grenzgebieten in Baden, im Elsass sprach. Ich hörte es mit offenem Mund. Ich glaube, dass im Bereich der deutsch-französischen Beziehungen auf der Basis einer bilateralen Initiative aber auch im Rahmen des Europarats sehr vieles für die gegenseitige Annäherung unternommen worden ist.
Ich glaube nicht, dass auch nur das Geringste in diese Richtung zwischen Griechenland und Deutschland passiert ist. Ich liebe die deutschen Lehrer, die ich in der Deutschen Schule Thessaloniki hatte, und das meine ich genauso, wie ich es sage. Sie gehören zu meinen wertvollsten Erinnerungen. Ich erinnere mich nicht, sie jemals als fremd oder beleidigend empfunden zu haben (wir dürfen natürlich nicht vergessen, dass diese Menschen der 68er Generation angehörten). Doch Projekte zur Verarbeitung von Traumata, zur gegenseitigen Annäherung – nein, von deren Existenz haben nicht einmal wir, die Schüler an den deutschen Schulen, die leiseste Ahnung gehabt.
Heute erfahre ich von meiner Tochter, dass solche Initiativen an der Deutschen Schule Athen gestartet werden, und auch hier im Rahmen des Forums sehe ich, dass ähnlich gelagerte Themen diskutiert werden. Dazwischen liegt allerdings ein jahrzehntelanges Verdrängen. Es gibt eiternde Wunden, Wunden, die hässliche Narben zurück gelassen haben. Natürlich gibt es auch skrupellose Politiker und Journalisten, die ganze Karrieren auf Grabräuberei errichten. Doch das Fehlen von systematischer Arbeit an diesen Themen – das Fehlen von Politik im eigentlichen Sinne lässt ein Feld glänzenden Ruhmes für Gespenster offen.
Stellen Sie sich vor: Ich habe 1982 meinen Abschluss an der Deutschen Schule in Thessaloniki erworben. Wir hatten einiges über die deutsche Geschichte gelernt und natürlich viel über den Holocaust gelesen und gesprochen. Allerdings nicht über „unseren“ Holocaust. Ich meine die Juden in Thessaloniki. Heute wissen wir alle, dass es „die“ jüdische Metropole des europäischen Mittelmeeres gewesen ist. Doch wo bleibt die deutsche Präsenz bei der Verarbeitung dieses Traumas? Und natürlich gilt Ähnliches auch für die großen Ereignisse der Besatzungszeit, allen voran die Hungersnot im Dezember 1941 in Athen und die unzähligen Dörfer, die durch die Besatzungstruppen in Brand gesetzt wurden.
Oder hat vielleicht diese meine Schule, der ich einen Großteil meiner heutigen Identität schuldig bin, jemals etwas für die jüdischen Schüler von damals getan? Wollen wir der Literatur Glauben schenken, waren die jüdischen Schüler irgendwann vor dem Krieg sogar in der Mehrheit unter den Schülern der Deutschen Schule Thessaloniki. Meines Wissens hat sich die Schule für diese Tatsache niemals interessiert. Die jüdischen Schüler bleiben für immer vertrieben und aus der Erinnerung ihrer Schule getilgt. Natürlich, und das haben wir vorhin auch gesagt: It takes two to tango.
Griechenland hat sich 2004 zum ersten Mal an den Holocaust erinnert – damals erst hat das griechische Parlament den Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer der Nationalsozialismus auch als Tag des Gedenkens an die griechischen Juden festgelegt. Alles, was seither passiert ist, ist – in jüngster Zeit – auf Initiative des Bürgermeisters von Thessaloniki Jiannis Boutaris geschehen, der tatsächlich große Anstrengungen zur Wiedergutmachung dieser Schande auf sich genommen hat. Aber ein Boutaris macht noch keinen Sommer.
Betrachten Sie bitte dieses doppelte deutsch-griechische Versäumnis in Sachen Erinnerung an die griechischen Juden und vor allem der Juden von Thessaloniki als bezeichnend für die Qualität der bilateralen Beziehungen in der Nachkriegszeit: sie waren zweckorientiert, spekulativ, instrumentell und in jeder Hinsicht absolut schuldhaft oberflächlich. Die Verantwortlichen und Herrschenden auf beiden Seiten haben sich entgegen ihrer Versäumnisse arrangiert. Heute ernten wir die unerfreulichen Früchte dieser Haltung.
Denken Sie an Kreta: Es gibt keinen Winkel ohne Erinnerung an die Grausamkeit der Besatzungszeit und es gibt keinen Winkel ohne deutsche Touristen. Es liegt auf der Hand, dass dieser Gegensatz eine Menge politischer Verarbeitung benötigt, um zu einer stabilen Freundschaft und zu gegenseitigem Verständnis zu führen.
Nichts ist jemals in diese Richtung passiert. Gibt es dabei eine implizite Botschaft für den einfachen Menschen auf der Strasse? Nun, ich fürchte ja, die gibt es. Die Botschaft lautet: Business führt immer zum Ziel, es heilt alle Wunden. Die Touristen haben Geld zum Ausgeben, also sind sie erwünscht. Die Einheimischen bekommen das Geld, also geben sie sich damit zufrieden. Und vor allen Dingen: Was geschehen ist, ist geschehen. Hacken wir einfach nicht darauf herum.
Das Auftauchen von hässlichen Stereotypen während der Krise, aber auch der Bodensatz ganzer politischer Bewegungen (und das,gilt nicht nur für Griechenland), der aus Rassismus, Ressentiments und Feindseligkeit gegenüber Europa besteht stellen eine greifbare Gefahr für die Demokratie und die Stabilität der einzelnen EU-Länder, aber auch für die gesamte Union dar. Denn vergessen Sie nicht: Sehr häufig lautet die Gleichung Deutschland=Europa.
Die falsche Botschaft
Es ist wahr, dass die Krise auf beiden Seiten Kräfte zur gegenseitigen Annäherung mobilisiert hat. Und dennoch, wenn Sie es mir erlauben, werde ich weiter im selben unerfreulichen Ton verbleiben und bemerken, dass diese Kräfte zu einem großen Maße in den Klischees wurzeln und sie weiterhin bedienen. Und sie werden in falsche Politiken übersetzt. So stellen wir häufig fest, dass sich das deutsche Pendel – wieder einmal unter den von den Massenmedien strengstens festgelegten Bedingungen – zwischen Feindseligkeit und Mitleid hin- und her bewegt.
Die „Bösen“ sagen, dass die Griechen Diebe und Faulpelze sind und dass sie aus der EU austreten sollten. Die „Guten“ wollen andauernd Geschichten von Hunger, Katastrophen und wirtschaftlicher Not hören und zu Hilfe kommen – allerdings paternalistisch: Als ob es sich um ein Land handeln würde, das nicht der entwickelten westlichen Welt angehören würde, und dem man alles von der Pike auf beibringen, in dem man alles von Grund auf aufbauen müsse.
Umgekehrt unterscheiden sich die Griechen ebenfalls in „Böse“ – jene, für die alle Deutschen Nazis sind, und die ebenfalls aus der EU austreten wollen. Und in „Gute“, die bereitwillig sind, alles Notwendige zu tun, damit „die Kohle fließt“, da bekanntlich Europa=Deutschland=Geld ist.
Niemand von all denen möchte das Zusammenleben von gleichberechtigten Partnern auf der Grundlage einer schon vorhandenen gemeinsamen Kultur anstreben. In diesem Zusammenhang kann ich mir zumindest kein geeigneteres Modell und kein anderes Vorbild als das der Bundesstaatlichkeit für ganz Europa vorstellen. Einer Föderation, die schon mit Erfolg hier in diesem Land angewandt wird. Wenn Europa und unsere beiden Länder, „meine“ beiden Länder, in ihren Beziehungen zueinander nicht das Modell und das Konzept einer Föderation umsetzen, und zwar so bald wie möglich, werden sich in naher Zukunft die Dinge noch weiter verschlechtern.
Der Traum eines gemeinsamen Schulfachs
Ich habe einen Traum. Mindestens einen. Auf europäischer Ebene heißt er „Staatsbürgerkunde des europäischen Bürgers“ und es sollte ihn im gemeinsamen Lehrplan in allen Schulen der Europäischen Union geben. Auf bilateraler Ebene ist DRINGEND ein gemeinsames Unterrichtsfach in deutsch-griechischer Geschichte notwendig. Es ist eine Geschichte, die beiden Seiten helfen wird, nicht nur den anderen, sondern vor allem sich selbst anders zu betrachten, sagen wir, ein gemeinsamer Geschichtsunterricht für eine Grundschulklasse in beiden Ländern, z. B. in der fünften, und für eine Gymnasialklasse, z. B. in der zehnten.
Es ist ein Vorschlag, über den ich nachgedacht habe und mit vielen Menschen gesprochen habe, denen wie mir die gemeinsame Sache am Herzen liegt. Ein Unterricht, der der Selbsterkenntnis mithilfe des anderen und dem Abbau von Stereotypen gewidmet sein wird. Ich bin sicher, wenn unsere beiden Länder ihre herausragenden Historiker, die sie haben, an der Erstellung eines solchen Unterrichts arbeiten lassen würden, dann würde dies sehr bald weltweit Vorbildfunktion erlangen.
Maria Topali
Erstveröffentlichung:
Maria Topali, "Will es nicht von selber gehen oder: Warum in den deutsch-griechischen Beziehungen (enorm) viel zu tun bleibt", Impulsvortrag im Rahmen des Deutsch-Griechischen Jugendforums (5. November 2014)
Der Vortrag in griechischer Sprache:
Μαρία Τοπάλη, «Από μόνο του δεν πάει ή Γιατί απομένει ακόμα (τρομερά) πολλή δουλειά να γίνει στις ελληνογερμανικές σχέσεις», Εναρκτήρια εισήγηση στο πλαίσιο του Ελληνογερμανικού Φόρουμ Νεολαίας (5 Νοεμβρίου 2014)