#Editorial
20.10.2015
Ein Kernanliegen des CeMoG ist die Erweiterung und Vertiefung der neogräzistischen Forschung und Lehre im Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität Berlin. Die aus Mitteln des DAAD geförderte Gastdozentur von Prof. Dr. Sevasti Trubeta, die das CeMoG in den kommenden Semestern (WS 2015/16 – SoSe 2016) organisiert, trägt hierzu in mehrfacher Hinsicht bei. Im aktuellen Lehrprogramm werden zentrale Aspekte der gemeinsamen deutsch-griechischen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert (2. Weltkrieg, Holocaust, Migration, Wissenstransfer) berücksichtigt und in der interdisziplinären und regionalen Perspektive historischer und soziologischer Ansätze innovativ aufbereitet. Ein wichtiger Schwerpunkt der Forschungsarbeit von Professor Trubeta (Universität der Ägäis, Lesbos) ist dem Bereich der Migrationsforschung gewidmet. Im folgenden Beitrag berichtet sie von Grenzen, Solidarität und Engagement der Zivilgesellschaft auf Lesbos, wo ihre Heimatuniversität ihren Sitz hat.
Flüchtlinge und lokale Zivilgesellschaft im Grenzland von Lesbos
Im vergangenen Sommer berichteten die europäischen Massenmedien fast täglich über die Flüchtlinge auf der ägäischen Insel Lesbos. In den Presseberichten dominierte das Bild einer Menschenmasse in Not, der chaotischen Situation ihres Aufenthaltes auf der Insel und auch das Bild der Fähre, die die Flüchtlinge nach Piräus brachte und somit zur nächsten Station auf ihrem langen Weg nach Westeuropa. Solche Berichte reflektierten meistens die Besorgnis der europäischen Staaten über die Anzahl der Flüchtlinge, die Mittel- und Nordeuropa zu erreichen versuchen. Auf diese Weise geriet Lesbos in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit mit der Eigenschaft der externen und porösen EU Grenze; als ob die Grenzlage der Insel überhaupt mit den gestiegenen Flüchtlingszahlen in den letzten Monaten zusammenhinge. Dabei kommt den Inseleinwohnern kaum Aufmerksamkeit zu, als wären sie schlicht passive Zuschauer der Geschehnisse.
In Wirklichkeit prägt die Grenzlage das Leben der Inseleinwohner in vielerlei Hinsicht. Sie geht auf den Anschluss der Insel an den griechischen Nationalstaat (1912) zurück, als Lesbos von einem Teil des einst blühenden „Äolischen Landes“ zur griechisch-türkischen Seegrenze und damit zugleich zu einem marginalisierten Grenzland wurde. Die Grenzlage der Insel hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert, zumal sie nicht mehr durch die griechisch-türkischen zwischenstaatlichen Beziehungen bestimmt wird. Die Grenzüberwachung richtet sich nun vornehmlich auf transnationale Grenzgänger. Während die Einreise für türkische Bürger erheblich erleichtert wurde (sie sind schließlich gewinnbringende Kunden für die lokale Wirtschaft), geraten Grenzgänger und Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Somalia u.a. in den Fokus der Grenzüberwachung. Ihre Präsenz vergegenwärtigt die Konflikte und Kriege in den weiten, sogenannten Weltkrisenregionen. Die Ägäis, und somit auch Lesbos, stehen im Zeichen globaler Entwicklungen und dies wird auf der lokalen Ebene in vielfältiger Weise deutlich. Schließlich sind nicht nur die Grenzgänger (die lebendig oder tot die Insel erreichen) in den Alltag der Inseleinwohner gelangt. Es sind auch die EU-Überwachungsinstitutionen und Menschrechtsorganisationen, Zivilakteure (Aktivisten und Volontäre) aus ganz Europa, die sich für die Rechte der Flüchtlinge und Grenzgänger einsetzen und mit ihrem Engagement die Grenzüberwachung herausfordern. Aber auch Abwesenheiten kennzeichnen das Bild des Grenzlandes; es ist die fehlende Infrastruktur, die das Leben der Einwohner geprägt hat und nun durch die Flüchtlingsankünfte ans Licht der Öffentlichkeit kommt.
All diese Aspekte bleiben ausgeblendet, wenn die ‚Grenze‘ ausschließlich durch die Linse der staatlichen bzw. EU-Souveränität betrachtet wird. Die Grenze ist jedoch ein relationaler Begriff, dessen territoriale Dimension in einer komplexen Beziehung zur sozialen Dimension steht: denn wo die Dinge geschehen, ist entscheidend dafür, wie sie geschehen.
Eine Facette dieser Geschehnisse, die in der internationalen Öffentlichkeit wenig Beachtung gefunden hat, betrifft das solidarische Engagement der lokalen Bevölkerung, die das Leid der Flüchtlinge und Grenzgänger zu mildern versuchte und dabei ein einzigartiges Solidaritätsprojekt ins Leben rief.
Es begann im Herbst 2012, als eine Gruppe von Bootsflüchtlingen Lesbos erreichte und sich vor dem Stadttheater aufhielt. Die erste Reaktion der lokalen Bevölkerung war, die Ankömmlinge mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Daraufhin forderten Zivilisten die Stadtverwaltung auf, eine Unterkunft für sie bereitzustellen. Angesichts der fehlenden Kooperation der Stadtverwaltung (und mit ihrer Duldung), ergriffen die Zivilisten die Initiative und brachten die Flüchtlinge in einer ehemaligen Kinderferienanlage namens PIKPA unter. PIKPA hat sich zur ersten – und möglicherweise europaweit einzigen – selbstverwalteten Flüchtlingsunterkunft unter der Schirmherrschaft der Zivilgesellschaft entwickelt. Bis heute haben dort tausende Flüchtlinge Schutz gefunden, bis sie registriert wurden und die Insel verlassen konnten. Die Inseleinwohner allein haben von Beginn an die Gäste von PIKPA (mitsamt der Flüchtlinge, die sich im Hafenbereich aufhielten, wenn die Anzahl der Ankömmlinge stieg) durch ehrenamtliche Arbeit und auf eigenen Kosten dauerhaft versorgt und unterstützt.
Das Engagement der Zivilgesellschaft erstreckte sich auch auf diejenigen, die es nicht schafften, lebendig die Küste von Lesbos zu erreichen. Als das Meer im Dezember 2012 zahlreiche Tote an die Küste der Insel brachte, veranlassten die Einheimischen ein würdiges Begräbnis und eine Trauerfeier und verhinderten somit die geplante „Entsorgung“ der Leichname in einem Massengrab. Die Insel hat seitdem für zahlreiche tote Flüchtlinge und Grenzgänger getrauert. Durch die Trauerfeiern wurde den Toten die Anonymität eines illegalen Körpers entzogen und sie wurden als Personen anerkannt, wie die Sozialanthropologin Sarah Green schrieb. Während die Grenzgänger, die in der Ägäis ihr Leben verlieren, von den staatlichen Institutionen als „Fälle“ bürokratisiert und behandelt wurden, gab ihnen die Trauer der lokalen Bevölkerung die Eigenschaft des sozialen Subjektes zurück.
Seitdem hat die Ankunft von Flüchtlingen in Lesbos nicht nachgelassen; im Gegenteil, die Zuspitzung des Bürgerkriegs in Syrien und die anhaltende Konfliktsituation in Afghanistan haben immer mehr Menschen zur Flucht gezwungen. Das Ausmaß der jüngsten Flüchtlingsankünfte in Lesbos entkräftete den behördlichen Plan, die Ankömmlinge durch ihre Einsperrung in einem Internierungslager (das im September 2013 eingerichtet wurde) unsichtbar zu machen. Die Flüchtlinge und Grenzgänger blieben schließlich in der öffentlichen Sphäre der Insel sichtbar und ihre Präsenz wurde von der lokalen Bevölkerung unterschiedlich gehandhabt. Für einige Inseleinwohner wurden sie als potentielle Kunden angesehen: Es ist beeindruckend, wie schnell sich die arabischsprachigen Schilder in den Läden von Mytilini, der Hauptstadt der Inseln, vermehrten. Reisebüros, sogar auch einige Kaffee-Shops, werben für ihre Angebote neben der türkischen auch in der arabischen Sprache. Andere wiederum nutzten die Notlage der Flüchtlinge aus, die sie zu leicht auszubeutenden Opfern machte. Auf der anderen Seite wurden die Solidaritätsaktionen fortgesetzt. Zivilisten übten Druck auf die Stadtverwaltung aus, um Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und die Registrierung der Ankömmlinge zu beschleunigen; sie hielten Wache vor den provisorischen Unterkünften, um mögliche Übergriffe auf die Flüchtlinge abzuwenden; in einer symbolischen Aktion wurde im Juni 2015 ein Autokonvoi organisiert, der die Insel durchquerte und die zu Fuß laufenden Flüchtlinge in die Stadt transportierte. Das breite Solidaritätsengagement der lokalen Bevölkerung umfasste vielfältige Aktivitäten und hat nicht zuletzt mögliche Gewaltausbrüche seitens der neonazistischen Partei „Goldene Morgenröte“ gehemmt.
Im Zuge der gegenwärtigen Flüchtlingsbewegungen erlebt Lesbos eine doppelte Marginalisierung als griechisches Grenzland und südosteuropäische EU-Grenze. Die marginalisierte Lage der Insel und die durch die mangelnde Infrastruktur bedingte Entfernung vom Athener Staat erschweren die Situation sowohl der Einwohner als auch der Flüchtlinge. Auf der anderen Seite jedoch dürfte eben die Unsichtbarkeit der Insel, vom Standpunkt des Zentralstaates, ein Solidaritätsprojekt wie jenes von PIKPA ermöglicht haben, und zwar lange bevor die zivilen Solidaritätsaktionen in Griechenland und europaweit das heutige Ausmaß erreichten.
Prof. Dr. Sevasti Trubeta