#Lesestoff
20.10.2015
Der griechische Offizier und jungintellektuelle Schriftsteller Manos Simonidis begleitet ein verliebtes, unverheiratetes Paar, Nancy und Ron, und die unwiderstehlich attraktive Emmy, Ehefrau eines österreichischen Politikers, bei einem abendlichen Spaziergang durch Jerusalem zu einem Tanzlokal für Offiziere. Emmy und Manos sind heimlich verliebt, doch an dem Abend erscheint Adam, eine zwielichtige Figur, die eine Anziehung der besonderen Art auf Emmy ausübt. Der folgende Auszug aus dem ersten Roman, Der Club, der Trilogie Steuerlose Städte von Stratis Tsirkas, die am 23. November im Literaturhaus Berlin zum ersten Mal in deutscher Übersetzung vorgestellt wird, vermittelt einen Einblick in die Atmosphäre des Romans zwischen Krieg, Begierde und innerem Kampf vor dem Hintergrund einer exotischen Bühne.
Auszug aus Der Club
Das Lokal, in das er sie führen wollte, war das Offizierskasino der Griechischen Gemeinde im Katamon-Viertel etwas weiter oben. Man ging zehn Minuten zu Fuß dorthin. Ron jedoch wollte Fliege und Jackett tragen. Man versuchte ihn umzustimmen, er aber ging sich umziehen.
„Ich sollte vielleicht nicht mitgehen“, sagte Emmy. „Wegen Rachel meine ich. Nach ein bis zwei Stunden wirkt die Spritze nicht mehr.“
Nancy und sie berechneten die Stunden. Um Mitternacht würde sie aufwachen, wenn sie das hatte, was Emmy befürchtete.
„Aber Rosa ist doch bei ihr. Mehr können Sie auch nicht machen. Herr Emmanuel, sagen Sie auch mal etwas, stehen Sie nicht herum wie ein Fremder!“
„Was soll ich schon sagen? Das Kasino macht ohnehin um eins zu.“
Die Kirchenglocke schlug neun. Ein aufgestörter Nachtvogel, der in einem der hohen Bäume des Nachbargartens nistete, schlug mit den Flügeln und stieß einen hohen Trillerton aus. Sein Echo erlosch vor smaragden leuchtendem Horizont. Emmy hängte sich bei Manos ein.
„Ich danke dir“, sagte sie zu ihm.
„Wofür?“
„Dass du mich zum Tanzen ausführst.“
Er entzog ihr seinen Arm.
„Ron hat noch ein Weltzentrum vergessen“, sagte er zu Nancy und dreht sich herum. „Moskau“.
„Ah, das ist es also“, sprach sie nachdenklich.
„Stört Sie das?“
„Keineswegs. Meine erste Liebe kam als Freiwilliger in Spanien um. Auf seine Initiative hin schickte Cambridge den ersten Krankenwagen. Ein Mann … ein Junge in der Pubertät. Feinfühlig, aber so empfindlich, mein Gott! In den ersten Tagen streuten Mosleys Leute das Gerücht, dass die Republikaner ihn wegen Feigheit vor dem Feind hingerichtet hätten. Ich wollte es nicht glauben. Später erfuhren wir, wie es passiert war. Aber auch so blieb etwas in mir zurück, als hätte man mir persönlich ein unverzeihliches Unrecht angetan. Ungefähr, was jemand fühlt, der über den Kinderkreuzzug von 1212 liest. Fünfzigtausend arglose Geschöpfe, die in den Bordellen von Genua, Lyon und Marseille endeten, auf dem Meeresgrund oder in den Harems von Alexandria.“
Die beiden schwiegen.
„Ich weiß, was Sie denken. Ron kam später. Als ich ihn kennen lernte, sagte ich: ‚Der ist wirklich.’ Der Andere war nur sein Abbild. Kann sein, dass ich mich geirrt habe, vielleicht auch nicht. Außerdem will eine Frau mit der Zeit nicht mehr suchen und sich fragen müssen. Sie will, dass eben der, den sie umarmt, ihr ein und alles ist, nicht ein Anderer. Hauptsache sie kann ihn umarmen.“
Sie machte eine Pirouette auf ihren Absätzen.
„Man darf ihn ihr nur nicht wieder wegnehmen …Wissen Sie, das ist mein erster Spaziergang, seit wir hier sind.“
Ron war jetzt zurück.
„Was macht die Patientin?“, fragte Emmy.
„Keine Ahnung. Stille, alles geschlossen.“
„Gib Emmy deinen Arm, mein Liebster. Ich versuche mal, dieses sympathische Stacheltier zu zähmen“, und nahm Manos’ Arm.
Von ihrer kleinen Straße gelangten sie auf die asphaltierte; die Frauen hatte man in die Mitte genommen. Es ging bergauf und sie sogen die frische Luft der ruhigen Nacht ein. Ihre Worte und Schritte hallten unter dem Laub der hohen Eukalyptusbäume anheimelnd wider. Emmy hatte das Gefühl, als erlebte sie die Ferien nach dem Ende der Gymnasialzeit erneut. Genauer: einen Samstagabend auf dem Land, als sie noch kindlich unbekümmert und voller jugendlicher Erwartungen war. Die Trunkenheit, etwas Blaues und Glattes, als sie Hölderlin zum erstenmal las. Griechenland, Mittelpunkt der Welt … Am Rand der Vierergruppe sah sie Manos, wie er Nancys Hand hob und sie auf die Handwurzel küsste.
„Ich muss an Richards denken“, bemerkte sie zu ihm. „Er sagte immer: ‚Wenn ´s darauf ankommt, stirbt ein Humanist lieber mit seinen Freunden als für das eine oder andere Dogma’. Lassen Sie mich nicht allein, wenn Ron etwas passiert.“
Was er ihr antwortete, hörte Emmy nicht. Nur:
„Ach, hören Sie doch auf, so förmlich zu sein! Oh Gott, was sind die Menschen, die vom Balkan kommen, doch nur für Snobs! Ich heiße Nancy. Und wer mich liebt, nennt mich Nan. Ron und Nan. Ein richtiges Katzenmärchen.“
Da merkte Manos, dass Emmy ihrem Gespräch folgte; er bückte sich und sagte zu ihr:
„Dort drüben, Frau Bobretzberg, in diesem Häuschen da wohnt jener Adam, nach dem Sie gefragt haben.“
Glücklichweise war Ron rechts von ihr mit seiner Schlipsschleife und der Pfeife beschäftigt. Gleich darauf hörten sie den Bus und wichen ihm aus. Lieder und Lachen drangen aus ihm, als wäre man unterwegs zu einem Ausflug. Etwas weiter zeigte Manos die Residenz des griechisch-orthodoxen Patriarchen, aber er wusste nicht, ob jener ständig dort wohnte; man nannte sie eben so. Und dann waren sie auch schon angekommen. Sie gingen ein Stück die Mauer entlang um einen großen Garten; wie sich herausstellte, war es ein Orangenhain. In seinem rückwärtigen Teil waren von weitem griechische Tangoschallplatten aus einem Lautsprecher zu hören. Das große, hölzerne Gittertor des Gutes stand halb offen. Manos bat sie, einen Moment zu warten. Er ging auf einen Wächter zu und sagte etwas zu ihm. Sie machten eine Taschenlampe an und kontrollierten so etwas wie ein Portemonnaie, einen Ausweis.
„Sie können sagen, was Sie wollen“, meinte Nancy. „Dieser Mensch versteckt sich nicht.“
„Nicht mehr. Er hat es mir heute verkündet“, sagte Emmy.
„Hat das was mit Ihrem Liebeszank zu tun?“
„Nichts. Außerdem sind wir kein Liebespaar. Und waren es auch nie.“
„Ach, Emmy, meine Beste. Es tut mir leid, ich muss mich wirklich schämen! Was werden Sie bloß über meine Kinderstube denken. Wo ich Sie so geneckt habe!“
„Das macht überhaupt nichts! Ich wollte, es wäre so. Nichts auf der Welt wünsche ich mir jetzt mehr. Ich habe aber einen Fehler gemacht und ihn damit verärgert. Nun weiß ich nicht, wie ich mich verhalten soll.“
Ron zog hastig an seiner Pfeife, ließ die Frauen stehen und ging in Richtung Tor. Doch Manos war fertig, zahlte etwas und kam her. Eine Unterredung begann, wie sie unter Männern üblich ist, wenn es um Amüsement und die Rechnung dafür geht.
„Kommen Sie“, sagte Manos zu allen. „Heute Abend sind Sie meine Gäste. Der Zutritt ist nur höheren Dienstgraden der Griechischen Armee und deren Begleitung gestattet. Ich habe sonst keine Namen genannt, meiner genügt.“
Der Mann öffnete ihnen; sie grüßten mit einer Kopfbewegung und gingen weiter auf einem langen, breiten Kiesweg. An dessen Ende waren einige blaue Girlandenlichter zu sehen. An den Seiten erkannte man kurzwüchsige, in Diagonalreihen angepflanzte Orangenbäume. Irgendwann öffnete sich der Weg zu einem kleinen quadratischen Platz; dort sahen sie fünf, sechs geparkte Wagen, die teils Zivilisten, teils zum Militär gehörten. Letztere waren als Tarnung für die Wüste wie Tigerfell angestrichen. Schließlich gelangten sie zu einer langgestreckten einstöckigen Villa, deren Fassade ganz mit jonischen Säulen bestanden war und in der Mitte eine Marmortreppe hatte. Die Fenster leuchteten schwach, denn die Scheiben waren wegen der Verdunklung violett gefärbt.
„Genau eine halbe Stunde haben wir gebraucht“, sagte Ron und zeigte seine Leuchtuhr. Dann streckte er die Hand aus: „Sieht aus wie das Herrschaftshaus eines Großgrundbesitzers in Südkarolina; nur die Schwarzen fehlen.“
Vor ihnen lag, kaum zu erkennen, die Tanzpiste, eine Zisterne, die nun leer war. So sah man lediglich die Köpfe der Paare, beinahe auf Fußhöhe.
„Da unten muss es ganz schön warm sein“, sagte Ron und hob die Stimme, um gehört zu werden.
„Aber sind das alles Griechen?“, fragte Emmy.
„Natürlich“, sagte Manos. „Bei den Damen bin ich mir allerdings nicht sicher. Da sind auch andere dabei, Frauen, die hier wohnen, oder Krankenschwestern und Soldatinnen.“
„Merkwürdig“, bemerkte Nancy, „die Griechen kenne ich sonst als Schreihälse.“
In der Tat: Außer Musik war nur das Schleifen genagelter Schuhsohlen auf dem Zementboden zu vernehmen.
„Beim Tango muss man sich konzentrieren. Wenn griechische Musik an der Reihe ist, sprechen wir uns wieder“, sagte jemand, aber sie fanden nicht heraus, wer es war.
Sie gingen weiter. Wie Nancy feststellte, war die Örtlichkeit so beleuchtet, dass nur jemand, der es wollte, erkannt werden konnte. Die Tischchen mit den zusammenwürfelten Stühlen standen hie und da im Garten, weit weg von der Tanzfläche. Ein Glühlämpchen, das einer blauen Orange glich, zeigte freie oder besetzte Tisch unter dem einen oder anderen Baum an. Kellner gab es nicht. Jeder ging in die Villa, bezahlte und nahm vom Buffet, was er bestellt hatte. Am Eingang mit dem griechischen Fries konnte man vage erkennen, wie Leute rein und rausgingen, gleich den Schatten von Pilgern in einem antiken Mysterienheiligtum.
Nachdem sie einen Tisch gefunden hatten, setzten sie sich, während Manos auf die Suche nach Drinks ging. Es dauerte lange. Der Tango war zu Ende, man legte noch einen auf, dann spielte ein Foxtrott von früher, der großen Erfolg in der Grube hatte, den Ausrufen zufolge. Ron fragte sich, ob Manos sie aus den Augen verloren hatte. Doch da kam er, zusammen mit einem anderen. Beide trugen etwas.
„Whisky gibt ´s keinen“, sagte er ihnen.
„In Ordnung“, meinte Ron erleichtert. „Ich wäre sonst hin und hätte ihnen das ganze Hauptquartier zusammengeschlagen. Gott sei Dank herrscht Gleichbehandlung.“
„Aber ich habe Gin, Soda und Eis aufgetrieben!“
„Hurraaa!“, rief Nancy und dann auch Emmy. „Stellen Sie die Sachen hin, damit wir anfangen können.“
Manos nahm den Unbekannten beiseite, und sie redeten ohne Ende. Irgendwann waren ihnen die Geheimnisse ausgegangen, und er schickte ihn fort. Sie füllten das erste Glas. Manos hielt sie an, etwas zu essen. Er hatte eingelegte Gürkchen mitgebracht, Feta-Käse, grüne Oliven, Weißbrot und Erdnüsse. Ihr Tisch hatte sich mit öligem Papier, Sodaflaschen und dickwandigen Gläsern gefüllt. In der Mitte stand, der deutschen Kirche gleich, ein Eisbehälter. Und daneben die viereckige Ginflasche.
„Auf die Liebe“, sagte Nancy und erhob das Glas.
Sie tranken auf die Liebe. Gleich darauf schlug Ron vor, auf den Sieg zu trinken.
„Die Deutschen haben bekannt gegeben, dass die Belagerung Tobruks begonnen hat“, gab ihm Manos zurück.
„Eine ihrer üblichen Lügen! Was haben wir, Donnerstag? Vor Samstag ist es unmöglich.“
„Und dann?“, fragte Emmy.
„Sehen wir mal. Wer will?“
Aber Manos stand jetzt und bat Nancy um den ersten Tanz.
„Mit Vergnügen“, sagte jene. „Emmy, meine Liebe, passen Sie auf Ron auf. Und wir wollen noch etwas zu trinken vorfinden.“
Im Dunkeln klopfte er ihr auf die Schulter, als wollte er ihr sagen: „Warte, du wirst schon sehen.“ Aber Emmy kam es vor, als würden sie nie zurückkehren. Ron, der mit ihr sprach, erhielt einsilbige Antworten. Ständig blickte sie um sich. Doch kamen sie irgendwann wieder und – oh Wunder! – Manos verbeugte sich vor ihr.
„Jetzt wird Walzer aufgelegt. Wir haben extra darum gebeten“, sagte er.
Unversehens lief sie zwischen den Orangenbäumen herum und ließ ihre Haare wehen, an deren Band sie aus Versehen gezogen hatte. Sie stolperte und verlor einen ihrer Pumps. Glücklich lachend zog sie an Manos’ Hand, die ihr aufhalf. Der Schuh fand sich, sie band wieder ihre Haare zusammen, und dann stiegen sie artig die Holztreppe zur Tanzpiste hinunter. Dort drinnen roch es nach Armee: verschwitzten Uniformen und Virginia-Tabak. Der Halbmond, fein ziseliert, begann rotgold zu sinken. Sie lehnten sich mit dem Rücken an die Wand und warteten ein wenig. Kaum erklangen die ersten Walzernoten, geschah das Übliche: Viele Paare traten beiseite oder gingen ohne viel Aufhebens.
„Jetzt“, sagte Manos.
Er legte den Arm um ihre Hüfte. Sogleich spürte Emmy den Schauder. „Oh mein Gott!“, sagte sie. Und als wäre er wirklich ihr Gott, ergab sie sich bebend seinen Armen. Sie spürte ihr Gesicht bleich werden und schloss die Augen.
„Deine Lippen“, stöhnte sie. „Gib mir deine Lippen, ich flehe dich an.“
„Schäm dich, Emmy! Die Leute sehen dich doch.“
Was für Leute? Was kümmerten ihn die Leute? Er wollte sie nicht, das war es. Er wollte lieber … ach, was suchte er bei ihr, das sie nicht hatte? Ich verlange nicht von dir, dass du mich liebst, wollte sie ihm sagen. „Ich möchte nur …“ Er war noch wie ein Kind. Tat ihr leid. Standen sie oder tanzten sie? Sie wusste es nicht. Die Konvulsion zog sich langsam durch ihre Brust, in die Fingerspitzen, ging rauf und runter, dann sogar sichtlich und lustvoll in die Wirbelsäule. Und der Kummer, kurz aber bitter, hämmerte auf ihre Schläfen und aufs Herz. Sie fühlte, wie ihre Schenkel und Beine anschwollen. Unterhalb der Hüfte war sie nun ein Elefant.
„Ich bin jetzt sehr müde. Setzen wir uns irgendwohin.“
Sie setzten sich auf den Zisternenrand. Die Musik wechselte und wurde rascher. Unten, hinter ihrem Rücken, sprangen die Paare nun herum, als wären sie beim Traubentreten.
„Sieh mich nicht so an, ich bitte dich. Das passiert mir zum ersten Mal, ich wollte es nicht.“
„Soll ich dir etwas bringen, ein Glas Wasser?“
„Nein! Geh heute Abend nicht weg. Wenn ich allein bleibe, passiert mir etwas Schlimmes. Ich spüre schon, wie es hier in unserer Nähe herumstreicht.“
‚Adam’, wollte sie ihm zurufen. ‚Ich habe ihn gesehen! Wohin hast du mich gebracht, mein Liebster?’
Aus: Stratis Tsirkas, Der Club,
im Erscheinen bei: Edition Romiosini, 2015.
Übersetzt von Gerhard Blümlein