#Lesestoff
09.05.2017
Die Bauweise dieser Geschichten ähnelt der Logik eines Traums: Du nimmst einen Topf in die Hand, daraus springt eine Kröte; die Gedankenkette führt zu einem verlassenen Haus, von dort zu der unbekannten, schon immer alten Frau, die es bewohnt hat, bis du plötzlich ein halbes Jahrhundert zurückversetzt wirst, als das Haus noch bewohnt und das Dorf von der Wehrmacht besetzt war. Das gleiche geschieht mit dem Vogel im Käfig, mit der leeren ungarischen Zigarettenschachtel, mit der altmodischen Likörflasche. Durch unscheinbare Alltagsgegenstände, die mit einem unerwarteten Sinn gefüllt werden, schafft Christoforos Milionis in seiner Erzählsammlung Acheron, die 1986 mit dem griechischen Staatspreis für Erzählungen ausgezeichnet wurde, eine Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger Epochen und eine vertraute Geographie entlegenster Orte. Aus Anlass des Todes von Christoforos Milionis im Januar dieses Jahres wird dieser Erzählband, ursprünglich 1990 im Romiosini-Verlag erschienen, nun von der Edition Romiosini in einer überarbeiteten Übersetzung und mit einer Einleitung von Elisavet Kotzia neu aufgelegt.
Με αφορμή τον θάνατο του Χριστόφορου Μηλιώνη τον Ιανουάριο του 2017, η Edition Romiosini επαναδημοσιεύει τη συλλογή διηγημάτων Καλαμάς και Αχέροντας (Romiosini Verlag, 1990) σε επανεπεξεργασμένη μετάφραση και με εισαγωγή της Ελισάβετ Κοτζιά. Ο ιστότοπος www.giannena-e.gr παρουσιάζει βιογραφικό σημείωμα, πλήρη εργογραφία, τίτλους βραβείων και διακρίσεων, μεταφραστικό έργο και μεταφράσεις του συγγραφέα.
- Christoforos Milionis: Symphonia
- Texte von Christoforos in deutscher Übersetzung. Eine Bibliographie
Christoforos Milionis: Symphonia
Wir, die wir einst die rauschenden Wellen der Ägäis überquerten,
sind nun in der unendlichen Steppe von Ekbatana begraben.
Philostratos
SIEH NUN, wie die Zeit es gefügt hat: eine touristische Reise, von denen, die sich heute selbst die Hausfrau von nebenan nicht scheuen würde anzutreten – für die wäre es sogar noch einfacher gewesen, würde ich sagen – hat mich schließlich zu dieser verfallenen Treppe zurückgebracht, die jetzt ohne ihren Altan mit dem alten Ziegeldach, der sie einst überdacht hatte, und, noch schlimmer, sogar ohne das Haus selbst da steht. Eine Treppe also, die nirgends hinaufführt.
Im vergangenen Sommer bedrängten mich einige Freunde – was heißt Freunde? Bekannte, trifft es wohl eher –, zusammen mit ihnen in die sozialistischen Länder zu reisen; um zu sehen, wie sie sagten, wie das System dort läuft, wie es den Leuten geht. Dass wir uns selbst eine Meinung bilden und nicht immer nur auf das Gerede und den Senf der anderen angewiesen sind.
Anfangs hatte ich meine Einwände. Wozu das alles? Was passiert, wenn es uns gefallen sollte? Werden wir dann etwa zurückkommen und eine Revolution anzetteln? Oder werden wir vielleicht die Multis aus dem Land jagen und vom Kapital einen Freibrief erhalten, das System zu ändern? Und angenommen, es gefällt uns nicht, werden wir dann den Schluss ziehen, dass es uns hier eigentlich ganz gut geht, trotz all unserer alltäglichen Miseren, und auch wenn uns dabei das Herz blutet?
Sie aber bestanden darauf. Zumindest könnten wir andere Menschen kennenlernen und neue Gegenden sehen. Das machen doch alle, warum also nicht auch wir?
Schließlich meldete ich mich für die Reise an, und die Gruppe erreichte die erforderliche Teilnehmerzahl.
Müßig, über die schier endlose Busreise zu erzählen, bei der alle aus dem Fenster stierten, wobei das eine Auge halb erloschen war, während sie mit dem anderen bereits schliefen; über das Hungergefühl und die Übelkeit im Magen, über die zehnminütigen Pinkelpausen, die immer erst dann stattfanden, wenn unsere Blase bereits kurz vor dem Platzen war, oder über die obligatorischen Mahlzeiten in den zwischen Fahrer und Wirt vorab festgelegten Restaurants, inklusive die damit einhergehenden körperlichen Folgen. Müßig auch, die Witze und Bemerkungen wiederzugeben, die einige Typen machten, genau genommen irgendwelche idiotischen Soldaten im Ruhestand – oh mein Gott, was für eine Bagage! –, Männer mit hängendem Doppelkinn und kurzärmeligen weißen Hemden, das Markenzeichen auf der linken Brusttasche: „Okraschoten, Jungs! Wir haben nirgends Okraschoten gesehen.“
Wir kamen abends in Budapest an, und man brachte uns in einem Hotel unter, das angeblich in der Nähe des Moszkva Tér lag und ebenfalls 'Budapest' hieß. Es handelte sich um ein etwa zehnstöckiges kugelrundes Hochhaus, um einen ziemlich wuchtigen Zylinder also.
Am nächsten Tag, nach einer Führung zu den Sehenswürdigkeiten – den Palästen und der Matthiaskirche, die sich in den Rauchglasfenstern des Hilton spiegelt, und, nachdem wir im Speiselokal der Fischerbastei gegessen hatten, zur Margareteninsel, der Insel der Verliebten –, landeten wir am frühen Abend auf der berühmten Vátci Utca, der Einkaufsstraße mit den Kristallwaren, den Fayencen und den Fotoapparaten. Kaum angekommen, wurde diese ganze, bis dahin schlaff vor sich hin trottende Herde plötzlich quicklebendig und stürzte sich wie wild auf die Verkaufstheken der Geschäfte. Und so blieb ich allein und zog zur Donau hinunter.
Dort stieß ich auf das Petöfi-Denkmal, musterte es eingehend und ließ mich auf seinem Sockel nieder. Sodann fiel mir auch der andere Dichter ein, Attila József, der ebenfalls in jungen Jahren starb, in Armut und mit all seinen Visionen, und ich dachte, dass man ihm bestimmt auch irgendwo ein Denkmal aufgestellt hatte und ich danach fragen müsste, nur wusste ich nicht wie. Da wurde ich gewahr, dass ein hoch aufgeschossener und schludrig angezogener Mann von kräftiger Statur hinkend auf mich zukam, und ich dachte, das sei eine gute Gelegenheit, aber noch bevor ich meinen Mund aufmachen konnte, kam er mir zuvor. „Dollars? Dollars?“, fragte er mich mit einer rauen, tiefen Stimme. Er wollte Dollars kaufen. Ich war schon von den Typen vom Bus über diese Art Geschäfte informiert worden und hatte mich darüber geärgert, und dies aus keinem anderen Grund als dem, dass gerade sie mich darauf hingewiesen hatten. „Lass mich in Ruhe“, antwortete ich ihm auf Griechisch. „Hey, bist du ein Landsmann?“, entgegnete er ebenfalls auf Griechisch und ergriff meine Hand. Er lehnte sich neben mich ans Geländer, und wir fingen zu plaudern an. Am Nachmittag war noch ein kurzer Schauer niedergegangen, und jetzt war alles von einer hinreißenden Lieblichkeit und glänzte golden in der Abendsonne: der Fluss, der ruhig dahinströmte, die Hängebrücken, die großen Kuppeln und, am anderen Ufer, der grüne Hügel mit dem Denkmal auf seinem Gipfel. „Der Freiheitshügel“, klärte mich der Landsmann auf. „Dort oben sind dreißigtausend Sowjets ums Leben gekommen.“ Ich fragte ihn nach seiner Behinderung. „Albanische Front“, sagte er. „Albanische Front und Grámmos.“ Er stammte aus dem Umland von Flórina. Sodann fragte ich ihn nach den griechischen Flüchtlingen, wie viele hier lebten, und was sie über uns dächten. Und plötzlich packte mich ein tiefes schmerzliches Verlangen, ja ich würde sogar sagen, eine Sehnsucht, sie zu besuchen: etwa in Tatabánya, wie er mir nannte, in Miskolc oder in dem nach Níkos Belojánnis benannten Dorf Beloiannisz. Wir einigten uns auf das Dorf. Er versprach, mir am nächsten Morgen ein Taxi zu schicken, für das er einen guten Preis aushandeln würde.
So traf am nächsten Morgen, just als sich die übrige Gruppe für die Busfahrt vor dem Hotel versammelte – auf dem Tagesprogramm stand ein Ausflug zum Balaton –, auch mein Taxifahrer ein, mit einem Zettel in der Hand, auf dem mein Name geschrieben stand, und fragte nach mir. Natürlich hatte ich den anderen nichts von meinem Reiseziel erzählt – besser, wenn man sich bedeckt hält, dachte ich –, aber um eine Erklärung, warum ich nicht mit ihnen fahren würde, kam ich nicht herum: Natürlich verbrächten wir mit unseren Scherzen eine schöne Zeit miteinander – es wäre schon so, dass wir Griechen, wo immer wir auch hingingen, Griechenland in uns trügen –, aber sie mögen mich doch bitte entschuldigen, ich müsste einen Check-up machen lassen – nein, nein, nichts Ernstes, aber wo ich schon mal hier sei, wäre es doch eine gute Gelegenheit nachsehen zu lassen, wie es um mich bestellt sei. Und plötzlich wollten es die anderen auch, und zwar alle zusammen, denn es wäre auch für sie eine günstige Gelegenheit, im selben Taxi mitzufahren, für mich käme es schließlich auch billiger. Ich sprang in den Wagen, verriegelte schnell die Tür, und wir fuhren los, während die anderen durch das geschlossene Seitenfenster noch mit dem Fahrer redeten.
Nach einer einstündigen Fahrt – das feuchte Gras roch angenehm, ein würziger Geruch, den ich immer noch in der Nase habe – erreichten wir das Dorf mit den ebenerdigen Häusern und den hohen Dächern, das die Flüchtlinge vor dreißig Jahren erbaut hatten. Auf dem Dorfplatz stieg ich aus. Und während mein Fahrer auf seine Uhr zeigte und mir bedeutete, mich in einer Stunde wieder am selben Platz einzufinden, ging ich alleine los und blieb nach einigen Schritten in der Mitte des Platzes stehen. Nach und nach traten aus den Türen der umliegenden Häuser schweigsame Gestalten, mit grauen Haaren und zerfurchten, vorzeitig gealterten Gesichtern. Von Dingen, über die man nicht reden kann, den Blicken voller Misstrauen, hinter dem die pure Panik hervorblinzelte, will ich gar nicht erst sprechen. Einzig den Friedhof jenseits des Wäldchens mit den Akazien und Zypressen will ich erwähnen. Oben auf den aufrecht stehenden Marmorplatten die Fotografien, alte Männer mit herabhängenden Schnurrbärten, alte Frauen mit schwarzen Kopftüchern, die unter dem Kinn gebunden waren: Dimítrios Ráptis. Evanthía Rápti. Ringsherum die endlose Ebene.
Zwei der Flüchtlinge begleiteten mich auf einen Raki in die Dorfkneipe, während auf der Straße spielende Griechenkinder auf Ungarisch miteinander quasselten. Die Männer ließen von Tavli und Spielkarten ab und versammelten sich um unseren Tisch. Lediglich ein gebrechlicher alter Mann, der nur noch Haut und Knochen war, dachte nicht daran, seinen Stuhl vor dem Fenster zu verlassen. Er saß die ganze Zeit reglos da, hatte die Hände auf einem Stock gestützt und schaute in die Feme, zur Donau hin, die aber nicht zu sehen war – nur das weite, flache Land. Man merkte, dass es ihm Mühe abverlangte, seinen Kiefer zusammenzuhalten, denn er unternahm wiederholt den Versuch, ihn zu schließen. Nach jedem Versuch nahm er ein kleines schmutziges Geschirrtuch – eines von denen, wie man sie von früher her kannte, mit Karomuster drauf –, das er über seine Knie geworfen hatte, zur Hand und wischte sich damit das Kinn ab. Ich fragte in die Runde, wer er sei.
„Ach“, meinten sie. „Das ist der Bárba Mítsos, der Doúlias.“ Ich traute meinen Ohren nicht. Ich trat an ihn heran und legte meine Hand auf seine Schulter.
„Wie geht's dir, Onkel?“, fragte ich ihn.
Er wandte seinen Kopf nach mir, und mit Mühe brachte er einen Satz zustande: „Ich kenne dich nicht.“
Ich nannte ihm meinen Namen. „Du bist groß geworden“, sagte er.
Solange wir anschließend noch beim Raki saßen, ging mir immerzu der Altan von Doúlias durch den Kopf, der Treppenabsatz, auf dem ich einst mit ihm zusammen saß und in die Gegend blickte. Und mir fällt wieder ein, dass ich mir, während ich so umherblickte, in Erinnerung rief, was sie so alles erzählten: dass hinter jenem Berg das Meer lag, ganz in Blau – wie einen umgedrehten Himmel, so hätte ich es mir vorzustellen. Mir schien es, als erzählten sie von fernen Welten, wirklich ferner noch als die Sonne, die sich zu jenem Zeitpunkt aufmachte unterzugehen und am Gipfel des Berges zu hängen schien. Und Doúlias, ausgestreckt auf seiner Liege unter dem Söller – schließlich war es Sommer –, halb im Kissen gelehnt, den Ellenbogen in seine Hand gestützt, ließ seinen Blick ebenfalls fortwährend in die Ferne schweifen.
„Onkel, warum wird die Sonne rot, wenn sie den Berg hinuntersinkt?“
„Weil dort drüben Albanien ist, wo die Roten sind.“ Und er fügte hinzu: „Nicht wie hier bei uns.“
Ich versuchte dann, mir das Erscheinungsbild von einigen Dorfbewohnern zu vergegenwärtigen, von denen ich wusste, dass sie aus Albanien gekommen waren, damals in der alten Zeit. Und mir kam es so vor, als seien ihre Gesichter tatsächlich etwas rötlicher als unsere, andererseits war der Unterschied gewiss nicht groß. Außerdem: Woher sollte der Unterschied auch kommen? Die Gesichter von allen waren von der Sonne und dem entbehrungsreichen Leben gegerbt wie Leder. Ich teilte Doúlias meine Gedanken mit. „Die zählen nicht“, antwortete er mir. „Die sind schon so viele Jahre hier, haben sich angepasst, sind schwarz geworden wie wir.“
„Und was hat Albanien für eine Fahne, Onkel?“
„Na, was für eine schon? Eine rote, was denn sonst?“
„Ah, deswegen also.“
Und deswegen sah ich nun auch eine große rote Fahne aus weicher Seide, ausgebreitet über den ganzen westlichen Abendhimmel, und mittendrin prangte die Sonne, die jetzt noch röter war. Ich erzählte es ihm, und es behagte ihm sehr.
„Aber, weißt du“, sagte er, „besser, du erzählst es nicht den anderen, die verstehen das nicht.“
Wem hätte ich es auch erzählen sollen? Wer hatte schon Lust, herumzusitzen, nur um die Sonne und den Himmel anzugaffen? Es war noch kein Jahr vergangen, seit die Deutschen abgezogen waren, und alle mühten sich, ihre verbrannten Häuser wieder aufzubauen, sich ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Nur ich und Doúlias hatten Lust dazu. Sein Haus, am Rand des Dorfes gelegen, war den Flammen entgangen. „Selbst die Deutschen haben es verschmäht“, pflegte er zu sagen.
Vor dem Krieg arbeitete er als Bäckereiarbeiter in Athen und war, wie man sich erzählte, ein überzeugter und überaus aktiver Gewerkschafter und als solcher auf der schwarzen Liste der Polizei exponiert vertreten. Das Metaxás-Regime hätte ihn zur Verbannung nach Ikaria geschickt, sagte man, und dort hätte er dann seinen letzten Schliff erhalten. Derweil soll im Dorf eine alte Mutter gelebt haben, die so gebückt ging, dass ihre Nase den Boden berührte. Jeden Samstag, wenn der Briefträger kam, hätte sie stets im Kafeníon gewartet, auf einen krummen Holzstock gestützt, den sie als Krücke nutzte. „Mein Mitsos , ui, ui,, der wird uns die Gleichgeradigkeit bringen.“ Und die Dorfbewohner hätten sie grausam verspottet, dass er seiner Alten gemeinsam mit der Gleichheit auch gleich den Rücken geraderücken würde. Als aber Doúlias endlich, wie so viele andere Athener während der Besatzungszeit, ins Dorf zurückkehrte, fand er sein Haus verschlossen vor, er traf sie nicht mehr an.
Das erzählte man sich über ihn, und dass er ein merkwürdiger Mensch sei. Jener hölzerne Altan mit dem Ziegeldach war für die Dörfler zu einer Art Kalender geworden, der die zwei großen Jahreszeiten anzeigte, Winter und Sommer, die übrigens auch die einzigen waren, die hier von Interesse waren und sich eindeutig zu erkennen gaben. Sobald es herbstete und die Mourgána sich in Wolken hüllte, vernagelte Doúlias die Haustür, die sich auf dem Altan befand, und zog in die Wohnstube im Erdgeschoss hinunter, um dort zu überwintern. Fortan benutzte er nur noch die Tür unter der Treppe, obwohl man ihn während des Winters genau genommen kaum noch in seinem Haus ein und ausgehen sah. „Der Doúlias hat sich eingennistet“, sagte man, „ist in den Winterschlaf gefallen wie ein russischer Bär.“
Es gab aber auch andere, die anderes behaupteten: Lasst euch nicht täuschen, sagten sie, dass er tagsüber nicht aus dem Haus gehe. Das sei pure Taktik, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. In den Nächten aber, wenn es stürmt und regnet, wenn es so dunkel ist, dass man die eigene Hand vor den Augen nicht erkennen kann und sich keine Menschenseele auf die Straße traut, treffe er in der Mühle des Alioússis in Megálo Réma mit den anderen Kadern aus den Láka-Dörfern zusammen, und sie hielten ihre Sitzungen ab. Und dass er über all diese Jahre hinweg der führende Parteifunktionär in der ELAS gewesen sei, er hätte die Richtlinien vorgegeben. Und vieles andere von dieser Sorte.
Kaum zog der Frühling ins Land, trug er jedenfalls seinen ganzen Plunder wieder zu seinem Beobachtungsstand hinauf: eine alte Eisenliege mit Metallfedern, eine Matratze aus Heu und Stroh und, neben dem zusammengedrückten Kissen, ein vor Dreck schon ganz schwarzes Handtuch. Und etwas weiter drüben stand auf dem Fußboden aus groben Bohlen der Krug mit dem frischen Wasser. Er ließ kein Kind, das die Straße entlang ging, vorbeigehen, ohne es zum Wasserholen zu schicken: „He, junger Freund! Nimm den Krug und füll ihn an der Wasserstelle.“ Meistens schickte er natürlich mich, und ich verrichtete den Botengang immer sehr gerne, denn anschließend durfte ich oben auf dem Treppenabsatz sitzen, und er erzählte mir von Jim Londos, der den diamantenbesetzten Weltmeistergürtel gewonnen hatte. Jim Londos nannte man auch mich, paradoxerweise, denn ich war das schmächtigste Kind in unserem Dorf. Wir hatten die Besatzung gerade hinter uns, und mehr oder weniger waren wir alle in einer miserablen Verfassung, ich aber war noch viel schlimmer dran. Den echten Jim Londos hatte Doúlias also in einer großen, vergilbten Zeitschrift, und er zeigte ihn mir, wie er die Oberarme mit den geschwollenen Muskeln seitlich ausgestreckt hatte, als ob er zwei große schwere Eimer hochheben würde, dabei hob er gar nichts hoch. In derselben Zeitschrift waren außerdem die ersten Flieger abgebildet, Ikaros, wie er zwischen umherwirbelnden Federn ins Meer stürzte, und weiter unten Dädalos, der sein Gesicht in den Händen vergrub. „Ich war schon mal dort, im Ikarischen Meer“, erzählte mir Doúlias. „Das sind keine Märchen, sie waren die eigentlichen Pioniere. So läuft es nun mal, sie geraten in Vergessenheit, und später kommen andere und finden ein bestelltes Feld vor.“
So war es mir also stets ein Vergnügen, ihm frisches Wasser zu bringen und ihm dabei zuzusehen, wie er es mit Begierde trank. Er trank immerzu Wasser, und immerzu schwitzte er, und zwar stets auf einer Seite seines Gesichts. Und immerzu wischte er sich den Schweiß mit dem Handtuch ab.
Später hörte ich, dass seine Lunge angegriffen sei, genau genommen der eine Lungenflügel, auf der Seite, auf der er auch schwitzte. „Mensch, du Lotterbube, geh nicht mehr hin zu dem, der hat die Schwindsucht, du wirst dich noch anstecken“, warnte mich jener Kafíris mit der Tolle und der schwarzen Brille, den man aufgrund seiner geringen Körpergröße auch Soumbás, den Knirps, nannte. Und fügte hinzu: „Außerdem ist er Marxist.“
Als wirklich krank konnte man ihn jedoch wahrlich nicht bezeichnen. Schließlich verrichtete er vom Frühjahr bis zum Herbst den ganzen lieben Vormittag lang harte Gartenarbeiten. „Meine Arbeit ist saisonbedingt“, pflegte er zu sagen. Mit der Spitzhacke legte er in Megálo Réma kleine Terrassenbeete an, befestigte sie mit Trockenmauern, zog Furchen für die Bewässerung, und anschließend verkaufte oder verpachtete er die Beete zum Anbau von Gemüse. Mit Tagesanbruch, noch bei Dunkelheit, fing er mit seiner Arbeit an, und gegen Mittag kehrte er mit einer schief auf dem Kopf sitzenden alten Schirmmütze und dem über die Schulter geworfenen Handtuch ins Dorf zurück. „Achtstundentag“, sagte er immer, „ich achte den Achtstundentag. Seinetwegen wurde viel Blut vergossen.“ Und dann erzählte er mir vom Ersten Mai in Chicago und von den drei Achtern: acht Stunden arbeiten, acht Stunden Freizeit und Erholung, acht Stunden schlafen. „Und meine Freizeit und Erholung“, sagte er, „das ist das Lesen und das Schauen.“ Später dachte ich, dass wenn er mich schon nicht mit der Schwindsucht angesteckt hat – gleichwohl mich eine Zeitlang eine solche Befürchtung umtrieb –, ich zumindest wohl diese beiden Gewohnheiten von ihm übernommen habe. Er las immer irgendwelche vergilbten Broschüren, die er unter seine Matratze steckte. So etwas wie Die permanente Revolution, Das internationale Proletariat oder Wenn die Völker erwachen. „Wenn sich das Volk nicht bildet, gibt es keinen Fortschritt. Welchen Fortschritt willst du denn mit Soumbás erlangen? Der hat doch nur Spitzenunterwäsche im Sinn. Aber das Kapital hält uns dumm, damit wir nach seiner Pfeife tanzen.“
„Was ist das Kapital, Onkel?“
„Ein Ungeheuer. Wie die Lernäische Schlange, verstehst du?“ Anschließend erklärte er mir: „Du kennst doch den Wasserfall in Megálo Réma? Ein regelrechter Schatz, weiße Kohle! Weißt du, was das bedeutet, weiße Kohle? Elektrizität für alle Dörfer der Láka, dass die ganze Gegend hell erleuchtet wird. Und die Ölquellen von Lávdani, warum, glaubst du wohl, zapfen sie die nicht an? Damit sie uns mit dem Erdöl aus dem Nahen Osten in der Hand haben. Die Italiener sagten es auch, ihr habt hier so viel Öl, sagten sie, dass ihr damit ganz Europa überschwemmen könntet. Und warum, glaubst du, haben die Italiener den Krieg angezettelt? Wegen des Öls in Albanien und Lávdani natürlich. In Albanien sind sie noch dazu gekommen, es abzubauen, und jetzt haben sie dort auch schon Strom. Siehst du nicht nachts die Dörfer von Derópolis? Sie haben alle elektrisches Licht.“
Ich kann nicht bestätigen, dass jene Dörfer tatsächlich schon damals Strom hatten. Es war, wie gesagt, die erste Zeit unmittelbar nach der Besatzung, und es ist wohl eher zweifelhaft. Das heißt, ich bezweifle es aus heutiger Sicht, damals jedoch hatte ich nicht die geringsten Zweifel, und wie ich glaube, er auch nicht. Damals stand außer Frage, dass die Lichter der Dörfer verlockend über die ganze Ebene von Derópolis glitzerten, Sternbildern gleich, die der Himmel dort ausgeschüttet hatte.
Am Ende kam ich jedenfalls zu dem Ergebnis, dass Doúlias aufgrund dessen, was er mir so alles erzählt und was ich von anderen über ihn gehört hatte, kein Mensch wie jeder andere war. Daher wunderte ich mich nicht, als sich eines Tages die Nachricht verbreitete, dass er verschwunden sei – es war in der Zeit, als Gerüchte über irgendwelche Gruppen kursierten, die am Kasidiáris aufgetaucht waren und weiter zur Mourgána zogen. Es erschien mir absolut natürlich, wie etwas, das jemand zu erwarten hatte. „Der ist fort“, sagte man, „hat sich mit den anderen davongemacht.“ Und manche sagten: „Der Doúlias ist uns durch die Lappen gegangen.“ Kafíris posaunte es sogar quer über den Dorfplatz.
Seitdem geriet alles durcheinander. Und wenn mich jemand gefragt hätte, wer noch lebt und wer schon gestorben sei, ich hätte es ihm nicht sagen können. Die Menschen verstreuten sich in alle Winde, und die Gegend verödete. Bis ich diese Reise machte, und Doúlias wie ein Gespenst plötzlich am Fenster saß.
Inzwischen war die Stunde offenbar bereits vergangen, und der Fahrer betrat sichtlich verärgert die Kneipe, um mich zu holen. Als ich seine eiskalte Hand ergriff, um mich zu verabschieden, schaffte es der Alte, mich zu fragen:
„Mein Haus? Steht es noch?“
Was hätte ich ihm sagen sollen? Ich versicherte ihm, dass ich nach meiner Rückkehr mit der ersten Gelegenheit in unser Dorf fahren, mich auf den Altan setzen und auf ihn zu warten werde. Er nickte zustimmend mit dem Kopf.
Und hier bin ich nun, an "seinem Haus", bei dieser verfallenen Steintreppe, die ohne ihren Altan und sogar ohne das Haus selbst da steht – eine Treppe also, die nirgends hinaufführt, wie ich sagte. Ich sitze auf dem Treppenabsatz, nur um in die Feme zu schauen und eine ungarische Zigarette zu rauchen, aus der Packung, die man mir in der Dorfkneipe geschenkt hatte, während man mich hinausbegleitete. Ihr Duft erinnert mich an den würzigen Geruch von feuchtem Gras. Es ist eine weiße Schachtel mit roten und schwarzen Streifen und einer Leier drauf. ARA 9,60, soll heißen, der Preis beträgt 9,60 Forint, also ungefähr 20 griechische Drachmen. Marke SYMPHONIA. Und neben mir Doúlias, den ich auf seinen Altan zurückgebracht und in die Liege gelegt habe – das Einzige, was mir möglich war zu tun.
Aus: Christoforos Milionis, Acheron,
in Vorbereitung, Edition Romiosini, 2017.
Originaltitel: "Symphonia", aus: Καλαμάς και Αχέροντας (1985).
Übersetzung: Hans Eideneier, überarbeitet von Theo Votsos.
In deutscher Übersetzung erschienen von Christoforos Milionis darüber hinaus folgende Texte:
- Kalamas und Acheron. Köln: Romiosini, 1990. [= Καλαμάς και Αχέροντας]
- "Vor dem Fluss", in: Danae Coulmas (Hg.), Griechische Erzählungen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel-Verlag, 1991. [= «Στην άκρη στο ποτάμι»]
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"Die Kröte", in: Gaby Wurster (Hg.), Griechische Erzählungen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1993. [= «Ο Φρύνος»]
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"In Pogoni", in: Nikos Thanos (Hg.), Wohin ich auch reise... Literarische Beschreibung Griechenlands. Köln: Romiosini, 1998. [= «Στο Πωγώνι»]
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"Vrakades und Tsoglania", Polis 1 (März 1996) 19. [= «Βρακάδες και Τσογλάνια»]
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"Die Gespenster von York", in: Niki Eideneier & Torsten Israel (Hg.), Rückkehr und Ankunft – Griechische Literatur aus zwei Jahrhunderten, die horen 202/2 (2001) 89-96. [= «Τα φαντάσματα του Γιορκ»]
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"Phryne", in: Niki Eideneier & Sophia Georgallidis (Hg.), Die Erben des Odysseus. Griechische Erzählungen der Gegenwart. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2001. [= «Η Φρύνη»]
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"Patriotismen in Jannena", Übers. Theo Votsos, Lettre International 54 (2001) 61. [= «Πατριωτισμοί στα Γιάννενα»]
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"Die Videokamera Panasonic", in: Annette Wassermann (Hg.), Wieder lügt Odysseus. Geschichten aus dem neuen Griechenland. Berlin: Wagenbach, 2002. [= "Βιντεοκάμερα Panasonic"]
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"Geschichten des Aufzugs", in: Sophia Georgallidis (Hg.), Ausflug mit Freundinnen. Eine Anthologie zeitgenössischer griechischer Erzählungen. Köln: Romiosini, 2002. [= "Ιστορίες του ασανσέρ"]
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"Das Steinewerfen", in: Niki Eideneier (Hg.), Wort und Spiele. Sport und Literatur im Griechenland der Neuzeit. Köln: Romiosini, 2004. [= "Το λιθάρι"]
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"Der Fund" und "Epilog", in: Mark Michalski (Hg.), Jenseits der Idylle. Sechs griechische Erzähler. Köln: Romiosini, 2005. [= "Το εύρημα", "Η μεταπολεμική πεζογραφία"]