#Wissenswert
12.10.2017
Loula Anagnostaki wird als eine der Erneuerinnen der griechischen Theaterszene der Zeit nach der Militärdiktatur und als eine der wichtigsten griechischen Theaterautorinnen betrachtet. Ihre ersten Stücke schrieb sie 1965, 2003 schrieb sie ihr letztes (Σε σας που με ακούτε [An Euch, die mich hört], das übrigens in Berlin spielt. Trauma, Schuld, Einsamkeit, Verlust, Niederlage sind Leitmotive ihrer Werke, die durch die bedeutendsten Regisseure des Landes inszeniert wurden. Loula Anagnostaki ist am 8. Oktober gestorben. Die Edition Romiosini wird demnächst Ihr Stück Die Kassette von 1982 wiederauflegen, das 1986 im Romiosini-Verlag in der Übersetzung von Nelly Weber und Niki Eideneier erschienen war. Lektoriert wird die Neuauflage von Dennis Püllmann.
Με αφορμή τον πρόσφατο θάνατο της Λούλας Αναγνωστάκη και την προγραμματισμένη επανέκδοση του θεατρικού έργου της Η κασέτα (1982), δημοσιεύουμε την τελευταία σκηνή από τη γερμανική μετάφραση της Nelly Weber και της Νίκης Eideneier.
Loula Anagnostaki: Die Kassette
Pavlos, die Hauptfigur, („Gelegenheitsarbeiter am Bau“) nimmt seine Gedanken mit einem Kassettenrekorder auf und hofft dabei, vor der Realität fliehen zu können – wie etwa der ungewollten Schwangerschaft seiner Verlobten, die er nun heiraten muss, oder dem idiotischen Tod seines Bruders, der beim Jubeln für den Sieg seiner Lieblingsfußballmannschaft umkam. Pavlos wird immer introvertierter und hört seiner eigenen Stimme zu auf den Kassetten, die er an Mehmet Ali Ağca schicken will, den von ihm idealisierten Attentäter des Papstes Johannes Paul II., den er für einen ehemaligen Mitschüler hält.
Pavlos ist eine der ausgereiftesten Figuren von Anagnostaki. Er weiß von Beginn an, dass er gefangen ist und ausbrechen will. Doch er versucht sich anzupassen, seinem Umfeld gerecht zu werden, seine Wünsche zu unterdrücken, bis ihn ein nichtiger Anlass zum Selbstmord führen wird – nicht aus Angst, sondern um seine Menschenwürde zu wahren.
Auf einer zweiten Ebene kann man jedoch die eigentliche „Hauptperson“ im programmatischen Titel selbst sehen: der Kassette. Auf einer Audiokassette kann alles aufgenommen, gelöscht oder überspielt werden; sie beschreibt Zirkel, spult auf und ab, hat zwei Seiten, keinen Anfang und kein Ende.
Auszug (letzte Szene)
(Einige Zeit ist vergangen. Es ist wieder Sommer. Sonntagmorgen gegen zwölf Uhr. Die Bühne ist nicht mehr unterteilt. Der Raum ist ein Speisezimmer, das heißt, das Zimmer von Pavlos ist nicht mehr da. Pavlos hat Katharina geheiratet. Links schiebt Vangelio einen Kinderwagen hin und her. An der anderen Seite der Bühne reinigt Pavlos seinen Karabiner, neben ihm der Kassettenrekorder; er hört Schlager. Er trägt ein weißes Hemd und eine weiße Hose.)
VANGELIO: (Singt monoton) Frau, mach mich zum Bräutigam / denn ich bin ein guter Junge. (Singt das Kind in den Schlaf) Bei seiner Hochzeit / wird seine Mutter tanzen / sie wird tanzen, sie wird springen, / dass das Haus zusammenbricht.
(Maritsa tritt ein, gut frisiert, in einem schwarzen Hemdblusenkleid wegen der Trauer, deckt den Tisch. Vangelio singt weiterhin eintönig, Pavlos stellt plötzlich den Kassettenrekorder lauter. Katharina kommt schnell herein, mit zerzaustem Haar und im Morgenrock.)
KATHARINA: Was ist? … Was ist? Das Baby, hat das Baby geschlafen? Pavlos, stell den Rekorder ab. Ach, bin ich erschrocken. Ich habe fest geschlafen. (Sie ist wieder schwanger.) In Ordnung, ja? Ist es endlich eingeschlafen? Die ganze Nacht hat es nicht aufgehört, ich habe kein Auge zugetan. (Sie beugt sich über den Wagen, nervös.) Es ist wieder nass. Was bist du für eine Mutter? Nicht einmal das Baby kannst du trockenlegen. Nimm es mit rein, nimm es mit. Und lass es nicht allein. (Vangelio geht mit dem Wagen hinaus.) Wie viel Uhr ist es? So spät schon. Wir haben das Baden verpasst, Pavlos, ist das schlimm? Dein Hemd ist hinüber – wenn du aber auch den Karabiner … Ach je, hinüber. Was hast du aber auch dein gutes Hemd an, früh am Morgen? (Pavlos sieht sie an.) Gehst du? Ist was los? Ach, ich weiß nicht, was ich sage – seit einer Woche habe ich kein Auge zugetan, ich habe auch noch geträumt, schrecklich. Was soll ich machen? Was sollen wir machen, mein Schatz. Maritsa geht weg mit Barba-Tassos. Was sollen wir machen?
SPIROS: Ein Hoch auf Maritsa. (Das Telefon klingelt.) Das wird für mich sein, für mich.
KETHI: (Schneidend) Bleib sitzen.
KATHARINA: Ich … ich … ich. Hallo? Wer ist da? Ja. Ja. Nein. Er kann nicht – nein, heute Abend gehen wir an den Strand.
SPIROS: Wer ist es, Katharina? Ist es mein Bruder?
KATHARINA: Ja, gerne, aber er kann jedenfalls nicht.
SPIROS: War es Stelios, Katharina?
KATHARINA: Nein, Mensch, es war für Pavlos.
SPIROS: (Verlegen) Ich erwarte einen Anruf von Stelios. Sie haben gesagt, vielleicht kommen sie mal hier vorbei.
KETHI: Dass ich nicht lache.
SPIROS: Warum?
KETHI: Stelios und Souli sollen hierher kommen? Wie oft habe ich das schon gehört?
MARITSA: Vielleicht liegst du ausgerechnet heute falsch. Denn ich habe Spiros gesagt, er soll sie einmal mitbringen, dass ich sie endlich kennenlerne. Ich werde ihnen auch von der Taverne erzählen. Sie gehören zur Jugend von heute und sind noch dazu ernsthafte Leute, denen gefällt so was.
KETHI: Und was versprichst du dir davon?
MARITSA: Der Gewinn liegt im Umsatz. Ich brauche sie. Am Anfang brauche ich alle Leute. Ich werde sie auch zur Eröffnung einladen.
KETHI: In die Taverne werden sie vielleicht manchmal kommen. Hierhin aber nicht.
PAVLOS: Wer war das?
KATHARINA: Der Souravlis. Er sagt, du wolltest ihn nach Varibobi fahren.
PAVLOS: Und?
KATHARINA: Was heißt hier ‚und‘, Pavlos. Du hast doch gehört. Ich habe ihm gesagt, du kannst nicht. Gehen wir denn nicht an den Strand?
MARITSA: Mensch, warum hast du Pavlos nicht gerufen, damit er selbst mit ihm spricht. Geht man so mit Kunden um.
KATHARINA: (Gerät langsam in Rage) Haben wir nicht das Recht, auch einmal an den Strand zu gehen? Ist Pavlos denn sein Sklave?
MARITSA: Was ist das für ein Blödsinn? Wessen Sklave? Er ist frei zu tun, was er will. Aber so spricht man nicht mit einem Kunden.
KATHARINA: Was hätte ich denn sagen sollen?
MARITSA: Das haben wir schon gesagt. Du sagst, er ist nicht da … er hat eine andere Tour. Du weißt nicht, wann er zurückkommt … So spricht man nicht mit einem Kunden. Sonst verliert man ihn.
KATHARINA: Dann verlieren wir ihn eben. Von wegen ‚verlieren‘. Er will was von uns. Bitte sehr. Nur weil der Herr Lust hat, nach Varibobi zu fahren, muss Pavlos dann eine Entschuldigung finden. Du glaubst, Pavlos sei mit dieser Arbeit zufrieden. Ganz und gar nicht. Pavlos wird nicht der Diener von Hinz und Kunz werden, er geht weg … er geht auf die Jagd, und er bleibt solange weg, wie er will. Pavlos tut alles, was er will; was er will, kann er tun. (Man hört wieder das Baby schreien.) Da fängt der verflixte Balg wieder an.
KETHI: Beschimpf es nicht.
KATHARINA: Es ist ein verflixter Balg, es soll zum Teufel gehen. So wie es schreit, wird ihm die Luft wegbleiben.
KETHI: Geh schnell und sieh nach.
KATHARINA: Ich gehe nirgendwohin. (Zu Maritsa und Kethi, die gleichzeitig aufstehen, als wollten sie hineingehen) Geht nicht da rein. Wenn es jemanden sieht, ist es nicht mehr zu beruhigen. (Von der Tür) Was machst du denn, Mama, gibst du ihm wieder die Flasche?
(Pause)
PAVLOS: Wo wollte er hinfahren?
KATHARINA: (Denkt nach) Nach Varibobi.
PAVLOS: Wer war es?
KATHARINA: Der Souravlis. Er sagt, du hast seine Telefonnummer. (Pavlos steht auf.) Pavlos, wohin gehst du?
PAVLOS: Ich will telefonieren.
KATHARINA: Gehen wir nicht zusammen zum Strand? Ich will auch ein bisschen ausgehen, sonst kriege ich hier drinnen noch Zustände. Wir haben doch gesagt, dass wir schwimmen gehen. (Das Telefon klingelt.)
SPIROS: (Stürzt hin und nimmt ab) Ja bitte? Einen Moment … (Er sieht Maritsa an, die zum Telefon läuft.)
MARITSA: Bitte …? Jawohl, mein Herr. Wie bitte? Äh … drei Personen. Noch drei dazu, ja sicher, ich glaube, das geht. Ich werde fragen, und er ruft Sie dann selbst an. Hat er Ihre Telefonnummer? Guten Tag. (Das Baby fängt wieder an.)
KATHARINA: (Außer sich an der Tür) Mama, nimm es weg von hier … geh mit ihm spazieren.
MARITSA: Also, dieser Herr bittet dich, ihn gegen vier nach Varibobi zu fahren. Es ist unbedingt notwendig, und wenn ihr wollt – ein sehr höflicher Mensch –, er hat gefragt, wie viele Personen ihr seid, dass ihr alle mit ihm zusammen fahrt. Er ist allein, und von da fahrt ihr weiter, wohin ihr wollt. Du brauchst ihn nicht zurückzubringen.
KETHI: Aber was sollen wir in Varibobi.
MARITSA: Dann fahrt ihr eben von da aus woandershin.
KETHI: Wohin denn, Maritsa?
MARITSA: Ich habe ihm ja nichts versprochen. Dem Mann schien es dringend zu sein, da dachte ich, wenn es geht, kann man ihm ja den Gefallen tun. Pavlos wird entscheiden. Es ist seine Arbeit, er regelt das mit seinen Kunden. Ich habe da nichts zu sagen.
KATHARINA: Und das Baby? Soll ich es auf dem Arm halten? Wir drei hinten mit dem Baby? Es wird weinen und alles auf den Kopf stellen. Ich gehe nirgendwohin, nirgendwohin.
SPIROS: Ich gehe auch nirgendwohin. Wie kommt er auf die Idee, uns alle nach Varibobi zu schleppen. Wofür hält der Herr uns?
MARITSA: Hör zu, Spiros, es war meine Pflicht, es zu sagen. Ich gehe weg von hier, und sie übernehmen selbst die Verantwortung. Dieser Mann ist der beste Kunde. Er hat große Ansprüche, o.k. Genau deshalb wollen sie einen Schwarzfahrer haben, dass er zur Verfügung steht, wenn sie ihn brauchen. Das meine ich, das ist eben meine Meinung …
KATHARINA: Behalt sie für dich. (Das Baby weint.) Ach, Kethi, was soll ich machen. Sie geht weg und verlässt uns, und auch Pavlos geht weg. (Pavlos legt eine Kassette ein. Man hört in voller Lautstärke das Lied „Der Zug nach Katerini“.) Ach, ich will nicht so schreien. Pavlos, mach es aus.
PAVLOS: (Schreit hysterisch) Halts Maul …! (Katharina wie vom Blitz getroffen; Pavlos macht die Kassette aus.)
MARITSA: Geh ein wenig hinein, es ist erschöpft.
KATHARINA: Ich gehe. (Das Baby ist still.)
MARITSA: Sieh mal, ob man die Windeln wechseln muss.
(Katharina geht hinaus wie ein Automat. Pause)
SPIROS: (Verlegen und ungeschickt) Ich meine, wir beruhigen uns jetzt, wir schlafen ein bisschen, und danach gehen wir an den Strand. (Pause) Ein Bad am Nachmittag ist das Beste. Fährst du morgen nach Xanthi?
PAVLOS: Das habe ich vor.
SPIROS: (Noch verlegener) Ich … ich möchte telefonieren, ja? (Er sieht Kethi an, alle sehen ihn schweigend an.) Also am Nachmittag gegen fünf Uhr, einverstanden? (Pause. Sie sehen ihn an, Spiros geht zum Telefon. Spricht mit seinem Bruder) Hallo Stelios, seid ihr zurück? Alles klar, gut. Ihr seid aber nicht vorbeigekommen … Ach, hör mal, kommt ihr nicht jetzt ein bisschen? Ach. Wo? Was du nicht sagst. Großer Schaden? (Zu Kethi) Sie hatten einen Zusammenstoß mit der Vespa … Ah, verstehe … ich verstehe. Pass auf. Wir gehen nicht vor vier Uhr weg. Soll ich vorbeischauen … Ah … Wenn du willst, komme ich und bringe dich, wohin du willst. Ich habe Zeit. Ah, gut. In Ordnung, Stelios, in Ordnung, ja ich habe verstanden. Gruß an Souli. (Er legt den Hörer auf.) Sie kommen nicht.
MARITSA: Dann ein andermal.
SPIROS: Die Kleine hatte einen Zusammenstoß mit der Vespa. Zum Glück ist nichts passiert.
KETHI: (Fährt dazwischen) Nenn sie nicht ‚die Kleine‘.
SPIROS: Ja, was … Ist sie denn nicht klein?
KETHI: (Zwischen den Zähnen) Nenn sie nicht ‚die Kleine‘, habe ich gesagt.
MARITSA: (Sie streicht immerzu über das Tischtuch.) Heute war eine günstige Gelegenheit, deinen Bruder kennenzulernen und das Mädchen und ihnen von der Taverne zu erzählen. (Katharina kommt herein, setzt sich. Maritsa fährt höflichkeitshalber fort.) Nun, ein anderes Mal.
SPIROS: Das kommt auf alle Fälle zustande.
KETHI: Sie finden es unter ihrer Würde, hierher zu kommen. (Kurze Pause. Verlegenheit)
PAVLOS: Warum, was ist hier?
KETHI: Ich weiß nicht. Es ist jedenfalls unter ihrer Würde.
PAVLOS: (SOURIRE IMMOTIVE) Sie sind sozusagen sehr bedeutende Leute.
KETHI: Dein Freund hält sie jedenfalls dafür. Hast du nicht gehört, wie er sich anbot?
PAVLOS: (Zu Spiros) Ist das so?
SPIROS: Sieh mal – im Grunde genommen müssen die Kinder viel lernen. Souli hat jetzt Prüfungen. Sie haben keine Zeit.
KETHI: Sie kommen nicht dazu, mein Lieber, sie lernen, sie rennen, sie kämpfen. Sie sind keine Müßiggänger wie wir. Ich zum Beispiel schufte acht Stunden am Tag, immer auf den Beinen, auch du und Katharina, die drei Tage und drei Nächte nicht geschlafen hat, und Maritsa, die die ganze Familie ernährt hat – wir sind Parasiten. So sagen sie doch, oder?
SPIROS: Haben sie je über dich gesagt, du seist ein Parasit?
KETHI: Über mich? Das sollen sie mal wagen.
PAVLOS: Über wen sagen sie es denn?
KATHARINA: Was geht es dich an, Pavlos. Sie sollen quatschen, so viel sie wollen.
MARITSA: (Immer versöhnlich und ein wenig zerstreut) Das Lernen und das Hin und Her und Kinos und Vergnügungen ist gut und wohl, bis sie heiraten. Lass sie mal heiraten, eine Familie gründen, dann reden wir noch mal darüber.
KETHI: (Ironisch) Die werden nicht heiraten.
MARITSA: Was, wird dein Bruder sie doch nicht nehmen?
KETHI: (Mit Nachdruck) Sie nimmt ihn nicht, Maritsa.
MARITSA: Warum nicht? Liebt sie ihn nicht?
KETHI: Frag hier – dann hörst du seine Meinung.
SPIROS: Was heißt das, Kethi, ich habe nichts gesagt.
KETHI: Doch, du hast.
SPIROS: Habe ich denn etwas Schlechtes gesagt? Na ja … wir haben uns eben so unterhalten. Wir hatten eine Unterhaltung unterwegs, und Kethi hat es in die falsche Kehle bekommen. Von wegen Meinung, so ein Quatsch.
KETHI: Deine Meinung betrifft mich, mein Herr, deshalb.
SPIROS: Ich habe keine Meinung, Mensch, ich sagte … ich sagte, Souli will nicht heiraten. Habe ich da etwas Böses gesagt?
KETHI: Ja, weil du sofort – aber auch sofort – anfingst, sie mit mir zu vergleichen. Weil ich heiraten will.
SPIROS: Na ja, eine andere Denkweise.
KETHI: (Außer sich) Eine Denkweise ist das? He? Wenn man den heiraten will, den man liebt? Ist das eine Denkweise? So nennen wir das jetzt?
MARITSA: (Die die Unterhaltung überhaupt nicht interessiert) Moment mal. Vielleicht ist das Mädchen nicht so sehr verliebt, dass sie ihn heiraten will.
SPIROS: (Energisch) Das ist sie wohl, und zwar sehr.
MARITSA: Woher weißt du das denn. Sie allein weiß das. Oder siehst du in sie hinein?
KETHI: Ach, Maritsa, wo lebst du denn – du lebst noch im Jahre 1948.
SPIROS: Hör auf, Kethi. Dein Humor ist geradezu umwerfend.
KETHI: Jawohl, 1948. Als für eine Frau Liebe gleich Ehe war.
MARITSA: Doch nicht unbedingt.
KETHI: Was heißt hier ‚unbedingt‘?
MARITSA: (Mit den Gedanken anderswo) Ich meine – Liebe ist nicht unbedingt notwendig für die Ehe.
KETHI: Bravo. Wir sind noch weiter hinter dem Mond zurück. Du solltest wissen, Maritsa, dass es heute Frauen gibt, die lieben, sich mit ihren Geliebten amüsieren, sie fühlen sich glücklich, wie sie sagen, aber an der Ehe haben sie kein Interesse, sie sind Linke und gehören nicht zur gehobenen Schicht, wie du vielleicht annehmen könntest.
MARITSA: (Uninteressiert) Ihr gutes Recht.
KETHI: Ja, ihr gutes Recht, weil diese Frauen auch Linke sind, wohlgemerkt, und nicht der gehobenen Schicht angehören, wie du es dir vorstellst. Sie sind nicht wie die anderen, wie wir, die Weiber, die wir uns die Hände kaputt arbeiten, und dann lackieren wir uns die Nägel, damit sie nicht so strapaziert aussehen, und, nicht wahr, das ist schlecht. Wir rennen uns die Füße ab im Geschäft, acht Stunden lang, sparen etwas zusammen, ein Grundstück hier, ein Grundstück da, vielleicht ist eine Wohnung besser angebracht, weil wir von niemand etwas vorgefunden haben, und wir haben uns auch nicht darauf verlegt, jemanden zu finden, der wohlhabend ist, wir wollen im Grunde den, den wir lieben, den wollen wir, Mensch, damit wir zusammenleben, und das für immer, ist das schlecht, auch wenn … auch wenn … schon gut, ich sage nichts weiter – deswegen sind wir aber keine „Weiber“ geworden.
SPIROS: Niemals hat sie dich so genannt.
KETHI: Halts Maul. Das sind deine eigenen Worte. „Kethi, du bist ein Weib. Du hast mir mit dem Grundstück die Ohren vollgesülzt, sonst hast du nichts zu sagen.“ „Kethi, du bist ein Weib, du langweilst mich, wenn du vom Friseursalon und von Kosmetik sprichst.“
SPIROS: Ja, du sprichst immer davon, stimmt das nicht?
KETHI: Worüber soll ich denn sprechen. Ich bin nicht gebildet. Ich habe wie ein Pferd gearbeitet. Ich habe mich um meine Alten gekümmert, bis sie die Augen geschlossen haben, habe sie gehütet wie meinen Augapfel. Ich habe ihnen nicht den Rücken gekehrt; weil ich gutmütig war, bin ich eine Null geblieben, das weiß ich, aber auch du bist eine Null.
SPIROS: O.K., bin ich. Habe ich das Gegenteil behauptet?
KETHI: Ich bin eben eine Null geblieben, so dass mich der Herr Stelios und seine Lady von oben herab behandeln, aber der da schämt sich meiner, statt mich zu verstehen und mich auf Händen zu tragen. Er schämt sich meiner, weißt du, wie weh das tut.
SPIROS: Ach, Kethi, übertreib doch nicht.
KETHI: Nun gut. Bis jetzt waren es die leichtfertigen Frauen, die uns zu schaffen machen, dann die reichen, aber das ist vorbei, das hat man überwunden. Ich habe mir gesagt, so viel kannst du, du hast einen Menschen gefunden, du liebst ihn, denn für mich, um es noch einmal zu betonen, zählt nicht der Vorteil, das Gefühl zählt.
SPIROS: In Ordnung, sag es noch zehnmal, du hast keinen Vorteil durch mich. Es gibt keinen Menschen, der einen Vorteil durch mich hat. Ich bin nicht so dumm, das nicht zu wissen.
KETHI: Das sage ich nicht deshalb. Ich sage es, weil für mich nur die Gefühle zählen. Deshalb. Und sag nicht wieder Weib zu mir. Denn wenn ich mir nicht die Haare färbe und mich nicht anständig anziehe, bin ich endgültig aus dem Rennen. Glaubst du, ich weiß das nicht. Ich weiß es vom ersten Moment an, aber ich bin darüber hinaus, o. k.
SPIROS: Du bist also darüber hinaus, was redest du jetzt?
KETHI: Da kommst du daher, mein Herr, der du ohne mich nicht leben könntest, weil ich dir Sicherheit gebe, wie du sagtest, und erniedrigst mich, um der Dame im schwarzen Gewand mit der langen Haarmähne einen Gefallen zu tun.
KATHARINA: (Kichert unvermittelt) He, Kethi, bist du eifersüchtig? Sag uns, Spiros, läuft irgendwas? Hahaha …
KETHI: Ich und eifersüchtig? Wieso eifersüchtig? Sie ist vor allem hässlich.
SPIROS: Aber doch nicht hässlich …
KETHI: Ein Monstrum, aber sie hat Bildung und Stil, sie spielt uns die Wichtige vor, weil … weil es Leute mit Komplexen gibt, die ihr zuhören und die sie bewundern und obendrein wollen sie dich so weit bringen, zu dir selbst zu sagen: O. k., Kethi, halts Maul, sprich lieber nicht, weil du nicht einmal deine eigene Sprache richtig kannst.
SPIROS: Sie ist ein einfaches Mädchen, liebe Leute. Was zum Teufel bringt sie so auf? Ein armes Mädchen, das studiert hat, anständig geblieben ist …
KETHI: Genau das macht mich verrückt. Wer ist sie denn, dass sie uns alle dazu bringt, demütig dazustehen. Maritsa, ich schwöre dir, wenn sie plötzlich hier eintreten würde, sie hat ein solches Auftreten, die Madame, dass du ihr zehn Knickse machen würdest, ohne es selbst zu merken. Auftreten kann sie – und auch sein Bruder, der Bauarbeiter, der auf Baustellen arbeitet, um zu studieren und gesellschaftlich aufzusteigen. Wenn du wirklich links stehst, willst du in deiner Klasse bleiben und nicht in höhere Schichten aufsteigen.
SPIROS: Ach, lass uns in Ruhe mit deinen Klugscheißereien.
KETHI: Ihr hört, wie er mich beleidigt.
MARITSA: Jetzt seid ihr aber auch zu weit gegangen.
KATHARINA: Bitte, jetzt hast du sie zum Weinen gebracht. Wir haben gesagt, wir wollen an den Strand gehen, und jetzt streitet ihr.
SPIROS: Sie soll lernen, keine Klugscheißereien von sich zu geben, verdammt nochmal. Wo leben wir denn. Kethi zum Beispiel, weil ihr Vater einmal mit den Linken im Widerstand war, will sie ein Leben lang eine Meinung über die Linken vertreten. Ihr Ohr hat zwei, drei Schlagworte aufgefangen, und jetzt kritisiert sie. Seht doch, keine Ahnung. Also hört alle zu. Auch du, Kethi. (Pause) Ich liebe dich, und du weißt es, o. k. Das mit der Heirat ist alles Blödsinn und betrifft dich überhaupt nicht. Wir heiraten, wann du willst. (Er stockt, ist verwirrt, aber etwas offiziell.) Und du weißt genau, dass ich die feste Arbeit in der Werkstatt, die ich verabscheue, nur deinetwegen annahm. (Er macht zwei Schritte. Mit bewegter Stimme) Aber das sollst du auch wissen. Meinen Bruder, den werde ich immer über dich stellen, ich stelle ihn über alles. Hast du verstanden? In meinem Leben ist er die Number One. Ich verbiete dir, noch einmal etwas gegen ihn zu sagen. Du willst, dass wir ihn nicht wiedersehen. O. k., sehen wir ihn eben nicht mehr. Aber wenn du seinen Namen wieder in den Mund nimmst, hast du mich verloren. Für immer. Ist das klar? (Kethi erträgt mit gesenktem Kopf diesen Angriff.) Weil du ihm nicht das Wasser reichen kannst. Weder du noch sonst jemand. Er ist mein Leben. (Er ist im Begriff zu weinen, stottert ein wenig.) In diesem … in diesem Leben haben nur die, die ihm gleichen, eine Existenzberechtigung. Nur in seiner Nähe fühle ich, dass auch ich ein Mensch bin. Ich weiß nicht, wie ich es anders sagen soll … (Verlegen) Zu guter Letzt, er ist mein Bruder, verstehst du? Jedenfalls sollst du eins wissen, er wird immer der Erste für mich sein.
(Pause)
PAVLOS: Und warum … warum kommt dieses Wunder nicht hierher, damit wir es zu Gesicht bekommen?
SPIROS: (Der diese Unterbrechung nicht erwartet hat) Was, was hast du gesagt?
PAVLOS: (Ruhig) Ich meine, warum kommt er nicht mal hierher?
SPIROS: Sie … können nicht. Die Vespa hatte einen Zusammenstoß. Hast du das nicht gehört?
PAVLOS: (Erhebt sich) Kethi hat vorhin was gesagt. Was hast du gesagt, Kethi? (Pause) Du hast gesagt, glaube ich, es ist unter seiner Würde. (Sanft, als ob es ihn nicht interessiert) Weshalb soll es unter seiner Würde sein? (Kethi sieht ihn an, antwortet aber nicht.)
MARITSA: Was heißt ‚unter seiner Würde‘, Pavlos? Er konnte einfach nicht kommen.
PAVLOS: (Zu Kethi) Wegen meines Vaters, nicht wahr? Wie gehabt. Hat er wieder gesagt, er wäre Faschist und so weiter? Und über mich?
KATHARINA: Und was kümmert es dich, Pavlos, was der eine oder andere sagt? Wer wagt es, über dich zu reden?
MARITSA: Dem sollen die Augen herausfallen, der was über dich sagt.
PAVLOS: Mensch, das interessiert mich nicht. Ich frage nur so aus Neugier. (SOURIRE IMMOTIVE) Sieh mal. Du sitzt sozusagen da, beschäftigst dich mit nichts, siehst vor dich hin in eine Richtung, und die anderen bekritteln dich. Also …
(Pavlos steht über Kethi gebeugt da, als ob er eine Antwort erwartet. Kethi sieht ihn durchdringend an. Spiros springt zwischen die beiden.)
SPIROS: Mensch, Pavlos … (Zu Kethi) Du hältst still. Du weißt, wie so was entsteht. Du weißt, der Kleine, mein Brüderchen – hör nicht auf sie –, liebt mich auffällig, er betet mich an, sozusagen, wir waren ja sehr früh verwaist. Er will alles wissen, was mit mir zu tun hat, vielleicht ist er eifersüchtig, was weiß ich? Kann sein, dass er eifersüchtig ist. Er will alles wissen, fragt mich aus, um es zu erfahren …
PAVLOS: Was fragt er?
SPIROS: Er fragt, wie ist denn dieser Pavlos, mit dem du so befreundet bist?
PAVLOS: (Ruhig, fast gleichgültig) Und was antwortest du ihm? (Zu Kethi) Was antwortet er ihm?
SPIROS: (Schnell) Was ich ihm antworte? Wie gehabt …
PAVLOS: ‚Wie gehabt‘, das heißt also?
SPIROS: Pavlos, du weißt doch, wenn ich über dich spreche, gerate ich ins Schwärmen und finde kein Ende. Er ist eifersüchtig, verstehst du? Pavlos ist etwas Besonderes, er gleicht keinem, ich mache dich zum Ideal.
PAVLOS: Und er ist eifersüchtig?
SPIROS: Weißt du, er ist auch ein unruhiger Geist. Du hast mich vorhin gehört, Stelios ist ein außergewöhnlicher Mensch und denkt völlig anders als wir und wird konkret: Welche Arbeit macht er, welche Interessen hat er, wo steht er politisch? Was antwortet man … Nichts sage ich ihm. Was soll ich ihm auch sagen? Pavlos ist das, was du vorhin gesagt hast: Er sitzt da und sieht vor sich hin in eine Richtung und wird ganz high. Hat er das verstanden? Verstehen solche Typen so was? Ich sage ihm also nichts, und er wird zornig, so was kapiert er nicht, und dann kann es sein, dass er keinen Satz mehr ausspricht. (Spiros hat den Faden verloren, er stockt und sieht voller Angst Kethi an.) Ich bin sein Bruder, Pavlos, er ist eifersüchtig, dass ich einen anderen so bewundere, und ist beunruhigt. Er weiß, dass ich, sagen wir mal: ein bisschen oberflächlich bin, er fürchtet sogar …
PAVLOS: (Schnell) Was fürchtet er?
SPIROS: Fürchtet? Was soll er fürchten? Habe ich gesagt, er fürchtet?
KETHI: (Zwischen den Zähnen) Er fürchtet, dass du vielleicht einen falschen Weg einschlägst. Bei dem schlechten Umgang.
KATHARINA: Um Himmels willen. Meint er Pavlos damit?
SPIROS: Halts Maul. Halts Maul. Ich drehe durch.
KETHI: (Abgehackt, indem sie die Worte betont) Zu wem sprichst du so?
SPIROS: Halts Maul, Kethi, wir werden uns in die Wolle kriegen …
KETHI: (Wie eben) Zu wem sprichst du so? Zu mir? Mit mir hast du gar nichts mehr zu tun. Hörst du? Ü-ber-haupt nichts. Das ist vorbei. Von dem Moment an, wo du hier die Ehe unter Voraussetzungen gewollt hast. Den großen Mann wirst du bei mir nicht mehr spielen. Den großen Mann kannst du bei deinem Bruder spielen, der ‚der Erste‘ in deinem Leben ist. Die Number One. Bei dem kannst du ihn spielen. Als er deinen Freund ‚süchtig‘ genannt hat …
KATHARINA: Das gibt es doch gar nicht.
MARITSA: Den hier hat er ‚süchtig‘ genannt? Den hier, der nicht raucht, nicht trinkt. Das gibt es doch gar nicht. (Pause)
SPIROS: (Verlegen. Er macht zwei sinnlose Schritte. Alle still) Ruhig Blut, Leute, ruhig Blut. Was ist in euch gefahren? (Verlegen, improvisiert) Du, Pavlos, verstehst es, oder? Der … der kennt dich nicht. Er stellt Vermutungen an … (Er sieht mal den einen, mal den anderen an, merkt, dass er Unsinn redet, hört aber nicht auf.) Kennen wir denn nicht die Griechen? Deswegen rede ich. Engstirnig. Sogar die Besten – engstirnig. So hat man es uns beigebracht. Wenn einer aus der Reihe tanzt, nicht das macht, was die andern tun, nicht arbeitet …
MARITSA: Nicht arbeitet? Pavlos arbeitet nicht? Der Junge bringt sich um vor lauter Arbeit. Er ist Familienvater. Den ganzen Tag am Steuer, er steht sich die Beine in den Bauch und ist mal dem einen, mal dem andern zu Diensten.
SPIROS: Aber Maritsa …
MARITSA: Er hat Schwielen an den Händen.
SPIROS: (Verloren) Aber Maritsa … (Zu Kethi) Verdammt nochmal, dafür wirst du mir bezahlen. Wisst ihr denn, wann dieses Gespräch stattgefunden hat. Es ist Jahre her … (Zu Kethi) Rede doch, verdammt nochmal. Dafür wirst du mir bezahlen, oder glaubt ihr, dass so etwas heute gesagt wurde? (Das Telefon klingelt.)
KATHARINA: (Hysterisch) Geht nicht ran. Geht nicht ran. (Trrrrr …) Das wird er wieder sein. Er sucht Pavlos für die Fahrt. (Zu Pavlos, der zum Telefon geht) Geh nicht, nicht. Du sollst nie wieder den Chauffeur für jemanden spielen.
PAVLOS: Hallo. Ja. Ich kann … um vier. O.k. (Er legt auf.)
(Pause. Maritsa deckt weiterhin den Tisch ab. Pavlos geht zum Kassettenrekorder, stellt ihn an. Man hört furchtbar laut das Lied ‚Der Zug nach Katerini‘.)
Ich habe dich plötzlich wiedergetroffen
ls du bei Lefteris Ouzo trankst.
KATHARINA: (Hält sich die Ohren zu. Hysterisch) Nicht, Pavlos, nicht. Ich halte es nicht aus. Das Kind wird wach.
Es wird keine Nacht mehr geben anderntags
wo du dein eigenes Geheimnis hast.
KATHARINA: Die Nachbarschaft. Mach aus.
(Pavlos macht den Rekorder aus. Ruhig geht er zu Kethi.)
PAVLOS: Wo waren wir also stehengeblieben … (Alle sehen hin. Kethi macht sich eine Zigarette an.) Ich … Wenn ich mich recht erinnere, haben wir ein Gespräch begonnen. (SOURIRE IMMOTIVE) Du hast also gesagt, (Zu Spiros, völlig normal) dass Souli, so heißt sie doch, dass Souli keine Lust zum Heiraten hat. (Spiros sieht ihn verblüfft an.) Ebenso wie auch Kethi keine Lust dazu hat, nicht wahr, Kethi? (Er streicht ihr sanft übers Haar.) Das ging aus dem Gespräch hervor. Ich habe es wenigstens so verstanden. Kethi ist stolz, sehr stolz von Charakter. Und du hast sie heute Abend sozusagen fertiggemacht, du hast sie zermalmt.
SPIROS: (Hilflos) Aber … was ist jetzt … machst du Spaß?
PAVLOS: Wenn sie es in der Hand hätte, würde sie sich nicht nach dir umdrehen. Niemals hätte sie sich auch nur nach dir umgedreht. Keine Sekunde lang. Das sieht man auf Anhieb. Nur du verstehst es nicht. Aber sie hatte es eben nicht in der Hand. Sie hatte sozusagen keine Chance. Sie hat nie eine Chance gehabt. (Lächelt) Sie wurde von denen zermalmt. Wie von einer Straßenwalze. Kapierst du? Es scheint schließlich so, als ob niemand es in der Hand hat. Schließlich werden alle niedergewalzt. (Er geht nach vorn, nimmt den Rekorder und von unten eine Kassette.) Niemand hat es in der Hand. (Er nimmt auch den Karabiner, den er gereinigt hatte.) Und dein Bruder, der sich vor dir aufspielt (Er bleibt vor Spiros stehen.), auch er ist ein Getretener, wenn er es auch im Moment nicht weiß. Bestell ihm Grüße, und noch was (Er ist am Ausgang angekommen.) sag ihm von mir, dass er eine Schwester ist, und ganz Athen weiß es. Also tschüss (Er sieht alle an), ich gehe schlafen, Katharina. Weck mich um vier, damit ich den Typen nach Varibobi fahre.
KATHARINA: Aber …
(Pavlos geht hinaus. Kurze Pause. Plötzlich stürzt Spiros dahin, wo Pavlos weggegangen ist.)
SPIROS: Pavlos, mein Freund, warum ist dieser letzte Satz aus deinem Mund gekommen? Mensch, werde nicht wie die anderen. Mit dem, was du gesagt hast, hast du gleichgezogen. Wir sind quitt.
(Pavlos hat drinnen den Rekorder auf volle Lautstärke gestellt, und so hört man die letzten Strophen des Liedes ‚Der Zug von Katerini‘.)
Im Nebel von fünf bis acht
es ist wie ein Messer in deinem Herzen
du hältst Wache in Katerini.
KATHARINA: Nein. Stell es ab. Stell es ab.
(Vangelio erscheint in der anderen Tür als dunkler schwerer Schatten.)
SPIROS: (Schlägt mit den Fäusten an die Tür) Pavlos, mach auf. Ich will es dir erklären. Lass mich nicht so zurück. Sprich, Kethi, sprich, sag ihm, dass es nicht so war.
es ist wie ein Messer in deinem Herzen
du hältst Wache in Katerini.
(Das Baby fängt wieder an zu schreien.)
KATHARINA: Es hat wieder angefangen. Wieder angefangen. Stell ab. (Sie sieht plötzlich ihre Mutter und stürzt auf sie los.) Hau ab, geh rein. (Vangelio rührt sich nicht.) Du bist zu nichts nütze. Nicht einmal auf das Kind kannst du aufpassen. Du willst eine Mutter sein, du eine Mutter …
(Vangelio rührt sich nicht. Die Kassette verstummt eine Sekunde, dann hört man von drinnen die bekannte andere Kassette: „In dem Moment, als der Papst im Jeep stehend auf den Petersplatz kam, schoss Agça sein Gewehr leer.“ Katharina stürzt an die Tür von Pavlos.)
KATHARINA: Stell es ab, Pavlos, abstellen … (Gleichzeitig: „In dem Moment, als der Papst stehend … stehend“) Lass uns weggehen, Pavlos. Ich komme mit dir, hörst du mich? (Gleichzeitig gehen die Kassette und das Weinen des Babys weiter.) Wir beide, Pavlos (Hysterisch), und das Kind. Sonst niemand. (Man hört einen Schuss.) Was war das? Was war das? Um Gottes willen.
(Kethi steht auf, sie rührt sich nicht, Maritsa ebenfalls. Das Geschrei des Babys hat aufgehört, die Kassette läuft weiter. Spiros stößt mit der Schulter die Tür auf, schreiend: „Pavlos, Pavlos.“)
MARITSA: (Leise, ausdruckslos) Um Gottes willen, um Gottes willen …
(Katharina, mit dem Gesicht zum Publikum, wiederholt leise wie ein Automat bis zum Schluss der Szene: „Den Karabiner, er nahm den Karabiner, er nahm den Karabiner …“ Spiros, der inzwischen hineingegangen ist, kommt wieder auf die Bühne, wobei er den toten Pavlos in den Armen trägt. Sein weißes Hemd zeigt ein wenig Rot. Er kommt nach vorn wie ein Roboter, Pavlos in den Armen tragend. Die anderen starr, während man die letzten Worte der Kassette hört, die nicht stehengeblieben ist: „In dem Moment als der Papst in dem Moment als der Papst auf den Platz auf den Platz, auf den Platz … Agça voller Blut.“)
(Absolute Stille. Dunkel. Ende. Aber man hört, während die Lichter angehen, das Lied ‚Der Zug nach Katerini‘ – bis die Zuschauer gehen.)
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Aus: Loula Anagnostaki, Die Kassette,
in Vorbereitung, Edition Romiosini, 2017.
Originaltitel: Η κασέτα (1982).
Übersetzung: Nelly Weber und Niki Eideneier, lektoriert von Dennis Püllmann.