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16.05.2018
Thanassis Valtinos war der Autor des letzten Offenen Briefes an Christa Wolf. Darin beschreibt er sein Treffen mit der deutschen Autorin an einem lauen Juliabend in Athen 1980. Christa Wolf schrieb damals an ihrer Kassandra, Valtinos hatte gerade seine Übersetzung der Orestie beendet, beide diskutierten unter dem nächtlichen Himmel Athens, auf der Terrasse von Valtinos' Wohnung, darüber, ob Klytämnestra oder Kassandra die erste Feministin der Literaturgeschichte gewesen sei.
Was Valtinos nicht wissen konnte: Durch seinen Offenen Brief antwortete er auf einen Text von Christa Wolf, den sie kurz nach ihrem Treffen geschrieben hatte – Valtinos hatte ihn nie gelesen! Wir danken dem Suhrkamp Verlag für die Genehmigung, den ersten Teil dieser Korrespondenz über Sprach- und Weltenbarrieren hinweg abzudrucken.
Ο Θανάσης Βαλτινός δημοσίευσε τον περασμένο Δεκέμβριο την Ανοιχτή Επιστολή στην Κρίστα Βολφ. Εδώ δημοσιεύουμε το απόσπασμα ενός κειμένου της Γερμανίδας συγγραφέως, το οποίο μπορεί να αναγνωστεί και ως το πρώτο μέρος μιας αλληλογραφίας.
Christa Wolf: Ein Reisebericht über das zufällige Auftauchen und die allmähliche Verfertigung einer Gestalt
Gab es Selbstmorde bei den frühen Völkern?
Valtinos, dessen Nummer, eben die, die uns Sigrid vor langer Zeit im Transitraum gegeben hat, wir endlich angerufen haben und der uns nachts auf dem Dach seines Hochhauses mit Kaffee und Wein bewirtet, Valtinos, der die Orestie des Aischylos gerade neu ins Neugriechische überträgt, findet in dem Text keinen Hinweis. Ausstoßung, das wissen wir ja, bedeutete für den Frühmenschen, der fest in Familie, Clan, Stamm eingebunden war, den sicheren Tod: durch Angst, Reue, Grauen, eigentlich wohl durch eine Auflösung jenes inneren Gerüstes von Werten, ohne das auch wir nicht leben können, bei dessen Zerfall auch uns die Todessehnsucht ankommt. Zu schweigen von jenen Fällen, in denen wir nicht anders können, als selbst dieses Gerüst zum Einsturz zu bringen und uns dadurch in jene Lage zu begeben, die, weil sie keine uns annehmbare Alternative bietet, »tragisch« genannt wird und die der Literatur so günstig ist. Wieso eigentlich, überlegen wir in dieser sehr milden Nacht, während, wie soll man es anders sagen, »die Sterne aufziehen«, wieso hat man so wenig beachtet, daß Kassandra, sozial gesehen, zur herrschenden Schicht gehört: die Tochter des Königs. Und daß es, man kann es dem Aischylos entnehmen, nicht jedermann erlaubt war, was er »sah«, zu sagen. Wie spricht der Chor der Greise von Argos, den eine böse Ahnung anspringt, als Klytaimnestra den Agamemnon in die Burg geleitet:
Wäre zwischen Menschen,
Den Mächtigen und den Geringen,
Nicht eine Schranke gesetzt:
Müßte, wer klein ist,
Nicht schweigen:
Alles würde ich sagen!
Schreien würde ich,
Und aus dem Herzen
Strömte es heraus!
Kassandra aber, vornehm geboren, hat das Privileg des Sprechens, des Gehört- und Genanntwerdens, selbst ihr Tod bleibt nicht namenlos. Ob er nicht glaube, frage ich Valtinos, daß sie, vor die Wahl gestellt, den ganzen Weg noch einmal gegangen wäre? Dies sei, sagt er, ein Gesichtspunkt von heute, denn eben das Moment der Wahl hätten die Alten nicht gekannt. Wenn schon heutige Gesichtspunkte: Finde er nicht auch, daß Kassandra die erste berufstätige Frau in der Literatur darstelle? Was hätte eine Frau werden können außer »Seherin«? Dann, sagt Valtinos, sei Klytaimnestra die erste Feministin: Zehn Jahre hat sie Mykene allein regiert; hat miterleben und dulden müssen, wie ihr Mann, der »sehr entschlossene« Agamemnon, ihr liebstes Kind, die Tochter Iphigenie, der Göttin opfert, von der er dafür günstigen Wind zur Kriegsfahrt seiner Flotte erhofft; hat sich zum Mann genommen den, der ihr gefiel: Aigisthos: Soll sie wegen der Rückkehr des Gatten auf ihre Rechte verzichten? An Herd und Spinnrocken zurückreichen?
Wir trinken. Es geht auf Mitternacht zu, die Luft wird kühler. Ja, es gibt ihn, den samtigen Himmel, es gibt das südliche Sterngefunkel. Schräg vor uns hängt tief _über der Stadt rötlichgelb eine türkische Mondsichel, die Weingläser stehn auf dem Beton der Terrasse neben unsern Stühlen. Sigrid bringt starken Kaffee in hohen Tassen, ihr Junge, der im Transitraum hingefallen war, muß nun ins Bett. Träumen wir? Muß ich nur einen bestimmten Namen aussprechen, damit alles zueinanderkommt, daß kleine Wunder geschehn, und ich immer tiefer in einen Zauber hineingezogen werde? Daß die Sterne singen – es ist ein hoher sirrender Ton –, ich will es keinem aufreden, aber wir haben es in jener Nacht gehört.
Schwieriger, als man denke, sagt Valtinos, sei es, die alten Texte ins Neugriechische zu übersetzen: wegen der Doppeldeutigkeit des Altgriechischen. Er gibt ein Beispiel: Klytaimnestra, nachdem sie ihren Gatten Agamemnon _überschwänglich begrüßt hat, weist die Mägde an, rote Tücher vor ihm auf den Weg zu legen, daß der Fuß des siegreich heimkehrenden Königs nicht den Boden berühre (dies scheint die sehr zweischneidige Einführung des heute noch gebräuchlichen roten Ehrenteppichs für fremde Staatsoberhäupter zu sein). Sie sagt in der Droysenschen Übersetzung:
Sei schnell ihm purpurüberdeckt der Gang zum Haus,
Dem ungehofften, daß ihn Dike leiten mag.
Bei Walter Jens finde ich:
Aus Purpur sei der Weg, der ihn, den kaum Erwarteten,
Ins Haus zurückbringt.
Und Peter Stein hat in seiner Orestie-Inszenierung Klytaimnestra sagen lassen:
Breitet, wie ich es angeordnet habe,
die Gewänder auf den Weg,
bedeckt den Boden,
laßt rasch den Purpurpfad entstehen.
Und Dike, die Gerechtigkeit,
geleite, führe ihn ins Haus,
wie er es wohl nicht erwartet hat.
Die Doppeldeutigkeit dieser Verse, sagt Valtinos, brächten die Übersetzungen meist nicht zur Geltung: Dike, die Göttin der Gerechtigkeit, wird angerufen als Beschützerin eines Mordes: Der Tod, den die Frau dem Mann zugedacht hat, ist in ihren Augen gerecht. So daß der »Purpurpfad« auch mit »Straße des Rechts« _übersetzt werden könnte – und so drängen sich ihm, je tiefer er sich in den Text hineinbegebe, zahlreiche Beispiele oszillierender Bedeutung auf; die noch dazu von den verschiedenen Übersetzergenerationen, je nach eigener Moralauffassung und Sinngebung, unterschiedlich übersetzt worden seien: Je nachdem, ob sie, und sei es unbewußt, auf seiten des Mannes oder auf seiten der Frau gestanden hätten. Auch in unsre Sprache seien sie schwer zu fassen, denn unsre doppelte Moral sei eine andre als die unserer Voreltern. Und selbst dieser Begriff, muß ich denken, »doppelte Moral«, wäre nicht ganz einfach zu übersetzen – anders, wenn man ihn abfällig, anders, wenn man ihn neutral gebraucht.
Zwar ist, so überlegen wir, die Doppelmoral der Alten vielleicht nicht so allgegenwärtig, alles beherrschend und durchdringend wie die Doppelmoral der christlich-abendländischen Zivilisation, die eine ungeheure, immer subtilere und spitzfindigere demagogische Gedankenarbeit leisten muß, um das Gebot DU SOLLST NICHT TÖTEN als sittliche Grundlage ihres Lebens anzuerkennen und es gleichzeitig, ohne moralisch zusammenzubrechen, für ihr praktisches Handeln außer Kraft zu setzen. So entstand im Zentrum dieser Kultur jener dunkle blinde Fleck, der ihr das Wichtigste, ihr mörderisches Doppelleben, verbirgt: ein Defizit, das leider – so reden wir nun schon nach Mitternacht auf unsrer Dachterrasse –, leider mit Notwendigkeit auch jene Prozesse, die zur Selbstvernichtung führen, vor den treibenden Kräften dieser Zivilisation unsichtbar macht; eine Hexenmagie, die wir nun vielleicht zu spät durchschaun. Und die Literatur hat, indem sie sie beschrieb, die Doppelmoral mit strukturiert.
Während Aischylos in aller Offenheit eine neue Moral, die des Vaterrechts, installiert, ohne eigentlich, meint Valtinos, die frühere mutterrechtliche Denkweise zu verleumden. Klytaimnestra, gut: Sie heuchelt anfangs, heuchelt Freude _über die Rückkehr des Gatten, doch nicht im Dienste einer doppelten Moral (weshalb ich es später nicht richtig fand, daß Peter Stein in der »Schaubühne« seine Klytaimnestra im Demagogenton des Goebbels auftreten läßt): Sie will tun können, was sie für recht hält. Agamemnon hat das noch nicht so alte Gebot: Du sollst keine Menschenopfer bringen, verletzt, indem er ihre und seine Tochter tötete. Wenn sie ihn umbringt, stellt sie das Recht, wie sie es empfindet, wieder her:
Das hier ist Agamemnon, mein Gemahl.
Von dieser meiner Hand getötet.
Meisterlich gelang das Werk, und auch gerecht.
Die Voreingenommenheit des Aischylos, sage ich, sähe ich im Abscheu der beiden Frauen, Kassandra und Klytaimnestra, gegeneinander.
KASSANDRA: … doch welches Tier kann ihr den Namen leihn? Drache, Skylla, Unhold?
KLYTAIMNESTRA: Da liegt er tot, der mein, des Weibes, Recht zertrat, (…)
Und hier die Sklavin, bei ihm liegt sie, wahrzuschaun,
Die treue Buhle, die bei Ruderbank und Mast
Mit ihm umherlag; haben’s dessen würdig jetzt.
So will der männliche Dichter diese Frauen sehen: haßvoll eifersüchtig, kleinlich gegeneinander – wie Frauen werden können, wenn sie aus der Öffentlichkeit vertrieben, an Haus und Herd zurückgejagt werden; genau dies geschah in den Jahrhunderten, deren Summe des Aischylos großes Drama zieht.
Darüber könnte man lange reden, sagen wir, als wir uns verabschieden. Im Sommer, wenn wir dieses Land längst verlassen haben, werden in Epidauros die Darsteller der Klytaimnestra, der Kassandra, des Agamemnon und des Orest die alten Texte in der Sprache von Valtinos sprechen. Ich verstehe, daß er überarbeitet ist. In seinem Zimmer seh ich seine Schreibmaschine in Papier ertrinken.
Kassandra übrigens, doziere ich auf dem Heimweg durch die nächtliche menschenleere Stadt, Kassandra hat den Aischylos nicht wirklich interessiert; nicht wie die Mordenden ihn interessiert haben. Uns, kommen wir überein, langweilen Mordende bis zum Überdruss. Umbringen, nicht beschreiben, sag ich, könnt ich manchmal die vom mörderischen Wahn Besessenen. Kassandra, vermute ich, definiert sich als Nichtmordende, Nichtwahnbesetzte. Woher kommen ihr die Lust und die Kraft zum Widerspruch?
Das Buch, das Valtinos uns mitgegeben hat, kommt, da es klein und leicht ist, in das Gepäck nach Kreta. Denn daß wir nach Kreta fahren müssen, ist unbestritten, auf einmal reden alle von der »Wiege des Abendlandes «, auf einmal reden alle von der minoischen Kultur. Die Fähre, die KRITI heißt, läßt allabendlich im Hafen von Piräus ein uraltes Schauspiel neu aufleben: Ein Schiff fährt ab. Das gilt. Die Aktivität des ganzen Bekkens sammelt sich vor der dunklen viereckigen Einfahrt aufs Schiff, vom Oberdeck aus sehen wir den Stau der Fahrzeuge, der uns, je näher die Abfahrtszeit rückt, um so hoffnungsloser erscheint. Wenn man den Gesten, den Schreien, die heraufdringen, glauben darf, spielen sich zwischen den Fahrern der ineinandergeknäulten Lastwagen Auseinandersetzungen auf Leben und Tod ab, Fäuste blitzen auf, einer setzt sich, die Hände vors Gesicht geschlagen, auf die Kaimauer, ein gebrochener Mann, nie und nimmer werden die weißen Mützen der Hafenpolizei, die sich jetzt unter die dunkelhaarigen Köpfe mischen, etwas ausrichten. Was soll ihr Winken, denke ich, bis mir klar wird, daß der von allen angefeindete Langholzwagen, dessen Fahrer zum äußersten entschlossen schien, langsam, langsam millimeterweis auf die Fähre rollt; daß nun auch die anderen Fahrzeuge sich ordnen, nach undurchschaubaren Mustern, als ziehe der Große sie hinter sich her. Und daß der Mann, der weinend auf der Kaimauer saß, _überhaupt kein Fahrzeug fährt, gar kein persönliches Interesse an dem Ergebnis, nur eins an dem Schauspiel hatte, von dem er jetzt, weil es uninteressant geworden, pfeifend wegschlendert.
Diese Abfahrt-, Abschieds- und Hafenszene erlebe ich nicht zum erstenmal; kein Mensch, der je Abschied nehmen, je etwas, was er »Heimat« nannte, verlassen mußte, kann sie zum erstenmal erleben. Nicht zum erstenmal, scheint mir, gleitet ein Schiff, auf dem ich stehe, von der Hafenmole, nicht zum erstenmal öffnet sich dieser dunkle Riß zwischen mir und dem Ufer, bleibt eine schwarze Gestalt, C., der wir lange zuwinken, die kleiner, dann winzig wird, an Land zurück.
Dann blickte ich auf und sah das Licht. Es war die siebte Abendstunde. Die Sonne, sehr tief, stand hinter uns und beleuchtete den Hafenbogen von Piräus, doch schien ein jeder Gegenstand in seiner eignen Farbe aus sich selbst, in einem Zauberlicht, das ich von da an keinen Abend mehr versäumte. So, in diesem Schein mögen, falls die Schiffe der Achaier auch gegen Abend erst von Troias Küste abgelegt haben, die gefangenen Troerinnen, am Heck der Schiffe zusammengedrängt, die Trümmer ihrer Stadt und ihr heimatliches Ufer zum letztenmal gesehen haben. Das wird ihren Schmerz geschärft und zugleich jene Liebe verankert haben, an die sie sich in der Fremde werden halten können.
Von den Erzählern aber, die über sie geschrieben haben und die alle nicht dabeigewesen sind, hat keiner dieses Licht erwähnt.
Aus: Christa Wolf, Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2008, S. 52-60.