#Lesestoff
17.07.2020
Pavlos wollte nichts mit dem Beruf seines Vaters zu tun haben und wurde Architekt und Zeichner. Doch der Polizeikommissar hat ihm einen Koffer mit ungelösten Mordfällen hinterlassen, und Pavlos kann sich dem Erbe nicht ganz entziehen. Der Zufall will es, dass ein Mord im Geflüchtetenmilieu in Athen ihn anspornt, das Geflecht eines Mordes im Münchner Gastarbeitermilieu der 1960er Jahre zu durchleuchten, der ausgerechnet an dem Tag stattfand, als der populäre Sänger und das Idol der Gastarbeiter Stelios Kazantzidis am Bahnhof ankam. Dieser Mord, einer der Fälle des Vaters, hatte wiederum auch mit offenen Rechnungen, mit Kollaborateuren und Altlasten aus dem Bürgerkrieg der 1940er Jahre zu tun. Die Investigation beschert Pavlos reizvolle Bekanntschaften, Erkenntnisse über seinen Vater und nicht zuletzt die Kulinarik der nordgriechischen Bergregion um Naoussa.
Der Roman Das Tuch der Penelope von Marlena Politopoulou in der Übersetzung von Birgit Hildebrand wurde von der Edition Romiosini veröffentlicht, als Beitrag zu den deutsch-griechischen Verflechtungen durch die Arbeitsmigration im Beispiel der Kriminalliteratur (s. auch unsere Anthologie Hellas Noir).
Το μυθιστόρημα Η Πηνελόπη των τρένων της Μαρλένας Πολιτοπούλου, ένα αστυνομικό στο οποίο ο δοσιλογισμός και ο Εμφύλιος, η μετανάστευση του ’60 και η σύγχρονη μετανάστευση συνδέονται με φόντο το Μόναχο και τη Νάουσα, κυκλοφορεί πλέον στα γερμανικά από την Edition Romiosini, σε μετάφραση της Birgit Hildebrand.
In der Columbia
Als Pavlos vor dem historischen Fabrikgebäude der griechischen Schallplattenfirma ankommt, ist der Polizeibus schon voll. Große schwarze Augen starren ihm aus den Fenstern entgegen. Ein minderjähriger Junge in zerrissener Kleidung und Flipflops wird gerade über die Stufen hineingestoßen. Er hat einen Schuh verloren, er hält an, um ihn aufzuheben, der Polizist hinter ihm gibt ihm einen heftigen Stoß in den Rücken, und er taumelt in den Bus. Hinter ihm schließt sich die Tür. Der Flipflop bleibt auf der Straße liegen.
Fünf Minuten später steht er vor einer Wand, die sich gerade noch auf dem morschen Fundament hält. Ein Gewirr von Steinen, Schlamm, Zementbrocken und Pflanzen, die aus den klaffenden Löchern sprießen. Durch die Decke blitzt hier und da der Himmel, aber wenn sich zwei Menschen in einer Ecke zusammendrängen, können sie sich vor dem Regen schützen. An der Nordwand sind die Mauerlücken mit Coladosen und Dosenmilchkartons zugestopft und der Boden mit schwarzer Plastikfolie abgedeckt, aus den Löchern wachsen Bärenklau und Löwenzahn. Und zwei große LKW-Reifen – die möglicherweise als Betten gedient haben.
»Ein Paar hat den Toten gefunden. Die Frau ist siebzehn, im dritten Monat, der Mann zweiundzwanzig. Sie sind vor acht Monaten gemeinsam aus der Türkei gekommen und haben offenbar mit dem Mord nichts zu tun. Sie haben angefangen, die Coladosen aus den Löchern zu holen und sie für ein paar Cents zu verscherbeln; dabei haben sie die Leiche entdeckt. Der Mann hat sich nicht verdrückt. Ein aufgeweckter, gut aussehender Junge, seine Frau eine richtige Schönheit. Sie wussten, dass sie vielleicht eine Chance haben, wenn sie es melden. Und sie werden sie haben. Ein spezieller Fall, um den werden sich die Hilfsorganisationen für Migranten bestimmt kümmern.«
»Ja. Eine schwangere Minderjährige! Die werden sie schützen. Ist schon was über das Opfer bekannt, Periklis?«
»Nein. Es wäre mir jedenfalls lieber, wenn es sich eindeutig um einen illegalen Migranten handeln würde, schwarz, braun oder gelb – egal. Aber es ist vermutlich ein Grieche, und das bringt uns in Teufels Küche.«
Periklis wandte sich an die Leute der Spurensicherung, die gerade ankamen und ihr Equipment auspackten:
»Macht voran, gleich sind wieder die verdammten Kameras da und wir können nicht arbeiten.«
Pavlos sondierte das Umfeld. Auf der einer Seite eine vielbefahrene Hauptstraße, auf der anderen eine Brache und ein weiteres großes Gelände mit altem Gemäuer. Parallel zur Straße die Bahngeleise. Dahinter eine der alten Fabriken. Stillgelegt wie mittlerweile fast alle.
»Warum gerade hier?«, fragte er nur.
»Nachts ist es hier wie ausgestorben. Vor einem halben Jahr hatten wir den Platz von Migranten gesäubert, er war eine Zeitlang unbewohnt, dann haben sie sich allmählich wieder hier angesammelt.«
»Es ist nicht schwer, hier drin einen Mord zu begehen oder einen Leichnam loszuwerden und den Verdacht auf die Migranten zu lenken. Ich seh mich bisschen um, bis ihr ihn runterholt.«
»Ich hole ihn nicht runter, ich warte auf den Gerichtsmediziner.« Periklis zog sein Komboloi aus der Tasche. »Schau mal, wie weit die renommierteste Adresse der griechischen Musik heruntergekommen ist. Alle waren sie hier, von Markos Vamvakaris bis Tolis Voskopoulos.«
»Eigentlich wollte man ein Museum draus machen. Aber bis das entschieden wird, steht kein Stein mehr auf dem anderen.«
Pavlos pfiff die Melodie der Frankosyriani und betrachtete den Toten aus zwei Metern Entfernung. Gesicht und Hals von Messerstichen gezeichnet, auch die Arme waren verletzt. Er ging ein Stück weiter. Er musste den Abfall wegkicken, um sich einen Weg zu bahnen. Pappkartons, Strümpfe, Unterwäsche, Essensreste. Er bückte sich und hob eine kleine Schallplatte auf. Weiter drüben noch eine und dann wieder eine. Immer dieselbe. Irgendwo musste eine Bestellung von 45ern übrig geblieben sein, »Die Kinder von Piräus«. Und jetzt lagen die Platten hier verstreut unter Melonenschalen und Hunde- und Menschenkot. Er verließ das Hauptgebäude und ging aus dem Gitterzaun hinaus auf die Straße. Der Boden wurde uneben. Katzen balancierten über die Mauern und beobachteten ihn aus der Entfernung. In der Nähe bellte ein Hund. Plötzlich stockte er, weiter hinten ertönte aus noch einem halbverfallenen Gebäude ein gedämpfter Schrei. Schon während er rief: »Keine Angst, wir tun dir nichts«, fiel ihm ein, dass der Mensch, der sich versteckt hielt, höchstwahrscheinlich kein Griechisch verstand. Pavlos rannte los, schrie: »Hierher, Periklis«, spürte, wie der Mensch dort hinten überlegte, was er tun sollte. Hinter der Mauer erschien die Spitze eines schmutzigen Schuhs. Er hörte, wie die Polizisten von hinten angerannt kamen. Der versteckte Mann beschloss zu flüchten. Pavlos hechtete hinter ihm her und nahm die Verfolgung auf. Er sprang über Plastiktüten und Sträucher und beging den Fehler zu denken: Was tue ich hier, ich jage einen Pakistaner, der im Müll haust? Ich? Wieso eigentlich? Das lähmte ihn, sein Schritt wurde unsicher, er rutschte aus. Ein Stein, ein Loch. Gerade als er in den Müllhaufen stürzte, sah Pavlos den Mann über die niedrige Mauer springen. Ein scharfer Schmerz im linken Fuß. Er stieß einen Schrei aus, wollte aufspringen, um das verlorene Terrain wieder gut zu machen, blieb keuchend liegen. Der Knöchel. Ein Fehltritt auf dem glitschigen Boden. Einer von Periklis’ Assistenten half ihm auf. Der große dürre Sitas, der ihm nachgerannt war, war über die Mauer gesprungen und bei der Jagd auf den kleinen dunkelhäutigen Mann mit den kaputten Schuhen verschwunden. Der hatte gelernt, bei Verfolgungsjagden nicht zu denken, ganz egal hinter was er her war!
»Ich bin hergekommen, um eine stehende Leiche zu sehen und werde nun liegend abtransportiert.«
Periklis trat zu ihm. »Ach was, du wirst dir was verstaucht haben.«
»Ich muss mich beherrschen, um nicht vor Schmerzen zu schreien. Bestimmt ist der Knöchel gebrochen. Gib mir zwei von diesen Lonarid, die du immer für dein Kreuz im Handschuhfach hast, und fahr mich ins Krankenhaus.«
»Immer mit der Ruhe. Die anderen telefonieren schon.«
»Habt ihr ihn?«, fragte Pavlos mit zusammengebissenen Zähnen.
»Nicht den, hinter dem du her warst. Aber weiter hinten waren noch zwei andere versteckt. Die haben geschlafen, vom Hungern erschöpft. Haben uns nicht mal gehört.«
»Ich bin gespannt, wie lange der Krankenwagen braucht.«
Sieben Minuten brauchte er, die Sanitäter waren absolut professionell und ausnehmend freundlich. Pavlos musste nicht operiert werden. Von den drei möglichen Arten eines Knöchelbruchs hatte der Zufall zumindest die günstigste ausgewählt: Am linken Fuß – er würde bald wieder Auto fahren können – und eine Außenknöchelfraktur ohne Dislokation. Er bekam einen Gips vom Knie bis nach unten. Der Professor, der ihn in der Uniklinik versorgte, drückte sich klar aus:
»Anfangs tut der Fuß noch eine Weile weh, er muss hochgelegt werden, damit er nicht anschwillt; nach vierzehn Tagen dann Krücken. In ein bis eineinhalb Monaten können Sie wieder laufen, mit einer Plastikschiene im Schuh. Und wenn alles gut geht, ist in vierzig Tagen wieder Autofahren möglich.«
Die Fahrt in den Norden würde sich also um vierzig Tage verschieben. Er beschloss der Praxis der Häftlinge zu folgen, die die Zeit zum Forschen und Studieren nutzen, gewöhnlich auf der Suche nach Daten für eine Revision und einen Freispruch. Die Ermittlung hatte Pavlos bisher nichts als Stress und Hyperaktivität gebracht, nun musste er einen neuen Rhythmus finden.
Marlena Politopoulou, Das Tuch der Penelope,
Berlin, Edition Romiosini, 2020, S. 19-23.