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#Lesestoff

23.05.2021

 Theodoros Rallis: “Ich verabschiedete mich von meiner Mutter und stieg auf ein Segelboot nach Syros”. Illustration zu Vikelas’ Loukis Laras

Theodoros Rallis: “Ich verabschiedete mich von meiner Mutter und stieg auf ein Segelboot nach Syros”. Illustration zu Vikelas’ Loukis Laras
Bildquelle: Nationalgalerie, Athen

Der Roman Loukis Laras des Geschäftsmannes und ersten Vorsitzenden des IOC Dimitrios Vikelas (1835 – 1908) wurde 1879 zum ersten Mal veröffentlicht. Die Handlung spielt zur Zeit der Griechischen Revolution 1821, doch der namensgebende Held nimmt daran nicht aktiv teil. Die Ereignisse, darunter auch das Chios-Massaker 1822, werden vom jungen, tüchtigen Kaufmann vielmehr als Echo wahrgenommen. Loukis Laras kann somit als ein Meilenstein der Erinnerungskultur an 1821 gelesen werden: jenseits vom etablierten, glorifizierenden Nationalismus der Romantik entwirft er eine bürgerliche Vergangenheit seines Landes, als Vision im Zeitalter der Industrialisierung und des expandierenden Welthandels. 

Der Übersetzer Wilhelm Lange (1849–1907) übertrug Vikelas‘ Roman 1883 ins Deutsche (die zweite Übersetzung nach der von 1879 durch Wilhelm Wagner). Hier können Sie das erste Kapitel (in historischer Rechtschreibung) lesen.

Ο Λουκής Λάρας του Δημήτριου Βικέλα θεωρείται ένα από τα σημαντικότερα μυθιστορήματα της ελληνικής πεζογραφίας του δέκατου ένατου αιώνα. Η πρώτη του μετάφραση στα γερμανικά πραγματοποιήθηκε το 1879, σχεδόν ταυτόχρονα με την ελληνική πρώτη έκδοση. Εδώ παρουσιάζουμε το πρώτο κεφάλαιο από τη μετάφραση του Βίλχελμ Λάγκε του 1883.

Dimitrios Vikelas, Loukis Laras
(1. Kapitel)

Zu Beginn des Jahres 1821 wohnte ich in Smyrna. Ich zählte damals fast zwanzig Jahre. Bereits vor sieben Jahren hatte mein Lehrer, der Pappas Flutis, — Gott habe ihn selig! — meinem Vater die Versicherung gegeben, daß ich für einen Mann, der sich dem Kaufmannsstande widmen wolle, schon mehr als genug wisse.

Mein Vater — sei es, daß er den Worten des guten Priesters glaubte, sei es, daß er die Schule des praktischen Lebens nützlicher für mich hielt — wollte mich zu Chios meine Studien nicht fortsetzen lassen, sondern nahm mich von dort mit sich nach Smyrna, wo er mich in seinem Geschäft anfangs als Commis verwendete, um mich dann kurz nachher als Compagnon anzunehmen.

Gott segnete alle unsere Unternehmungen. Unsere Einnahmen mehrten sich von Jahr zu Jahr, und unser Ansehen wuchs von Tag zu Tag auf dem Markte zu Smyrna.

Übrigens hatte mein Vater — ich kann es ohne Übertreibung sagen — sich gleich von Anfang an einen geachteten Namen und eine bedeutende Stellung erworben; denn er war in allen geschäftlichen Angelegenheiten sehr ehrenhaft und solide.

Ich muss hinzufügen — nicht um mich zu rühmen, sondern aus kindlicher Dankbarkeit — daß ich meine Erfolge in dem Geschäft vor allem den Grundsätzen der Ehrenhaftigkeit zu danken habe, die mein Vater mir von Kindheit an eingeflößt.

Der Kreis unserer Geschäfte und damit zugleich unser Gesichtskreis erweiterte sich mehr und mehr. Die Handelsbeziehungen zu den fremden Correspondenten in Europa vermochten unsern kaufmännischen Thatendrang nicht mehr zu befriedigen; zwei oder drei unserer Landsleute, ,,neue Columbusse“ des griechischen Handels, hatten in jenen Jahren in London ihr Zelt bereits aufgeschlagen. Ihre Lorbeeren ließen uns nicht schlafen, und es wurde die Frage in Erwägung gezogen, ob es nicht angemessen sei, mich mit einem Oheim mütterlicherseits nach England zu schicken.

Ich hatte bereits in Erwartung unserer Übersiedlung bei einem englischen Geistlichen, einer Art von Pappas Flutis, der mir allerdings nicht viel beibrachte, Englisch zu lernen angefangen; allein es war doch vielleicht nicht ganz seine Schuld, daß ich im Englischen nicht weit kam. Ich will mich an dem Andenken meiner ersten Lehrer nicht versündigen!

Mein Vater und ich sowie alle Verwandte und Freunde, die uns umgaben, widmeten unsere ganze Thätigkeit und Aufmerksamkeit dem Geschäft. Von der „Gesellschaft der Freunde“ und den Vorbereitungen zu der griechischen Erhebung wußten wir nicht das Geringste.

Wie alle damaligen Griechen empfanden auch wir, ohne uns dessen eigentlich bewußt zu sein, den Drang nach Freiheit. Wir sahen zu Smyrna die Europäer gehobenen Hauptes einhergehen, und mit einem Gefühl der Bitterkeit und des Neides dachten wir des Glückes der freien christlichen Völker. Wir waren einigermaßen unterrichtet über die französische Revolution und hegten darum eine gewisse unbestimmte Hoffnung, wieder ein selbständiges Volk zu werden, eine Hoffnung, die sich vorzugsweise auf die Hilfe gründete, die uns aus dem Norden kommen sollte. Wenn wir bei festlichen Gelegenheiten uns vereinigten, so sangen auch wir die Lieder des Rigas; allein niemand von uns ahnte, daß wir uns am Vorabend der allgemeinen Erhebung unseres Volkes befanden.

Mein Vater und ich verbrachten ruhig unser Leben innerhalb des Chans; während des Tages mitten in unseren Verschiedenen Handelsartikeln, des Nachts in dem kleinen Zimmer über unserem Magazin, wo mein Vater und ich schliefen.

Des Sonntags begaben wir uns regelmäßig in die St. Fotini-Kirche, um der Messe beizuwohnen, worauf wir dann von Zeit zu Zeit einer der in Smyrna ansässigen Familien aus Chios einen Besuch machten.

Nur selten, ein oder zweimal des Jahres, namentlich um die Osterzeit, unternahmen wir einen Vergnügungs-Ausflug nach einem der umliegenden Dörfer; und dann riefen die reine Luft, der Anblick der Bäume und Felder Erinnerungen an Chios, an unser Landhaus, an unseren Garten in uns wach. Und schmerzlicher denn je empfanden wir dann die Trennung von unserer Familie.

So schwanden die Tage, die Monate, die Jahre hin. Ich dachte kaum noch an etwas anderes, als an meine bevorstehende Reise nach England. Nur hiervon träumte ich und meine Träume waren in jeder Beziehung so rosenfarbenl

Aber da mit einem Mal wurden Träume und Pläne, Arbeit und Sicherheit — kurz alles, über den Haufen geworfen!

Zu Beginn des März wachte ich eines Nachts voll Entsetzen auf. Ich hatte im Schlaf nach einander mehrere Schüsse gehört. Ich setzte mich im Bett aufrecht, gespannt horchend und starr in der Dunkelheit um mich herum blickend.

Mein Vater lag in tiefem Schlafe.

War es nur ein Traum gewesen?

Nein; da piff paff piff paff! von neuem und zu gleich wildes Gebrüll.

Ich weckte meinen Vater und nun begannen wir Beide zu lauschen.

Während der ganzen Nacht hörte das Schreien und Lärmen nicht auf. Wir konnten uns gar nicht denken, was denn geschehen sein möchte.

Und wie es erfahren?

Gern wären wir ausgegangen; allein die Furcht war stärker als die Neugier und hielt uns in unserem Zimmer zurück.

Gegen Tagesanbruch gingen wir auf die Straße des Chans hinab, wo wir noch andere Personen aus der Nachbarschaft versammelt fanden, die ebenfalls nicht wußten, was geschehen und in derselben Unruhe waren.

Die Chane sind in der Regel nach Art einer Festung gebaut; außen hohe, feste Mauern, in der Mitte ein unbedeckter länglich runder oder viereckiger Hof. Aus diesem Hof gehen die Thüren und Fenster der Wohnungen und Magazine. Nur durch ein eisernes Thor, welches des Nachts geschlossen wird, kann man aus dem Chan hinaus gelangen.

Als gegen Morgen der Wächter die Pforte öffnete, erfuhren wir, daß die Türken am vorhergehenden Abend den Befehl erhalten hätten, sich zu bewaffnen. Daher ihr nächtliches Schießen und Lärmen.

Aber warum eine solche Bewaffnung? Welche Gefahr konnte Anlaß zu einer solchen Verordnung gegeben haben? Wir zogen Erkundigungen ein bei denen, welche von draußen kamen; man vermochte uns nichts bestimmtes anzugeben. Der eine sagte: Eine Empörung der Janitscharen; der zweite Krieg: mit Rußland. Einige jedoch flüsterten sich heimlich ins Ohr, die Christen hätten sich erhoben.

So ging dieser Tag hin. Es war ein Sonnabend. Wir entfernten uns nicht aus dem Chan; allein durch die Pforte konnten wir die Türken bewaffnet und mit wilden Gesichtern auf den Straßen auf und abschreiten sehen.

Am folgenden Tage begaben wir uns wie gewöhnlich zur Messe. An diesem Sonntag war keine Predigt, so daß die in der Kirche Versammelten mit einiger Verwunderung den Geistlichen die Kanzel besteigen sahen.

Allein dies geschah auch nicht, um uns das Wort Gottes zu verkünden, sondern um eine Excommunikation des Patriarchen zu verlesen.

Mit Bestürzung hörten wir alle diese entsetzlichen Bannflüche, diese furchtbaren Verwünschungen. Wir hörten die Namen Sutsos und Ypsilandis als die von Schuldigen und Verräthern. Wir erfuhren, daß es sich um aufrührerische Bewegungen in der Walachei und um geheime Verschwörungen handle. Wir sahen uns einander in der Kirche heimlich an und tauschten ganz leise besorgte Fragen und Bemerkungen aus.

Was hatte dieser Ausstand, der in so schrecklicher Weise verflucht wurde, zu bedeuten? Welches war der Ursprung der Bewegung?

Wir wußten es nicht — wir wußten nur, daß Ypsilandis in Rußland ein angesehener, einflußreicher Mann war, und glaubten daher, es handle sich um irgend einen von Rußland her erregten Ausstand, und dieses sei vielleicht der Beginn eines russisch-türkischen Krieges.

Allein dies alles waren nur Vermuthungen — so unbestimmter und nebelhafter Art, daß ich es heut kaum noch zu schildern vermag.

Auch die Türken in Smyrna befanden sich über das, was vorging, im Unklaren. Sie wußten noch nicht genau, daß die Rajas sich gegen sie empört hatten. Sie glaubten, die Gefahr käme von Rußland. Allein nichts desto weniger erwachte ihr Fanatismus gleich von Anfang an. Es handelte sich für sie um einen Krieg gegen die Ungläubigen; darum war jeder Christ ein Feind, jeder Raja ein Schlachtopfer.

Ιn Folge dessen verfinsterte sich für uns gleich vom ersten Tage an der Horizont, und Unruhe und Furcht beschwerten unsere Herzen.

Die Worte ,,Unruhe“ und „Furcht“ sind mir bereits wiederholt in die Feder gekommen. Aber wozu einen Muth heucheln, den wir weder hatten noch haben konnten?

Lächle nicht, lieber Leser, — sage nicht, ich sei ja ein Chiote, und führe meine Furchtsamkeit nicht auf eine Stammeseigenthümlichkeit der Chioten zurück.

Ich hätte dich in meiner damaligen Lage sehen mögen, für wie tapfer du dich vielleicht auch hältst.

Denn wisse, unbewaffnet und unbeschützt, durch die Sklaverei gedemüthigt, der Wuth und den Mißhandlungen oder auch dem Dolche des ersten besten Türken ausgesetzt, ohne die mindeste Hoffnung, jemals Gerechtigkeit oder auch nur Rache zu finden, — wie hätten wir, die bescheidenen Kaufleute im Chan zu Smyrna Muth besitzen sollen! Und zudem, wozu hätte uns dieser Muth genützt. Wir besaßen nur Geduld, und wir brauchten viel Geduld, weil unser damaliges Leben eine beständige Qual, ein langes Martyrium war.

Aber auch die Geduld hat ihre Grenzen! Zuweilen erschöpft sie sich und dann folgt entweder dumpfe Niedergeschlagenheit oder jene Verzweiflung, welche zum Heroismus führt. Vielleicht sind viele Beispiele von Heroismus sowohl in der griechischen Erhebung wie in der Geschichte der Menschheit überhaupt, der geschriebenen sowohl wie der ungeschriebenen die Folge einer solchen Verzweiflung. Was mich angeht, so hat Gott mich vor dumpfer Niedergeschlagenheit bewahrt, und zu der Verzweiflung des Heroismus war meine Natur nicht geschaffen; allein niemals habe ich weder die Geduld noch die Hoffnung verloren und dafür habe ich Gott oft gedankt.

Einige Tage nach diesem Excommunikationssonntage begab ich mich früh morgens in das Judenviertel, um Geld einzukassiren. Ich hatte bereits eine Summe erhoben, und steckte den Beutel, in welchem sie sich befand, in die Brusttasche, als ich plötzlich Schreien und lärmende Schritte vernahm und eine Menge Christen und Juden ganz verzweifelt vorüber laufen sah.

Bevor der Jude, bei dem ich mich befand, die Thür schließen konnte, hatte sich sein dunkler Laden mit einer Anzahl erschreckter Glaubensgenossen gefüllt.

Die abgebrochenen Worte, welche sie in ihrem spanischen Dialekt hervorstießen, klärten mich über den Sachverhalt nicht auf, vermochten mich auch nicht zu beruhigen. Sie wußten selbst nicht, was geschehen war und weshalb sie flohen.

Als der Lärm sich gelegt hatte, und es draußen wieder ruhig geworden, machten wir vorsichtig die Thür wieder auf. Nach und nach öffneten sich auch die anderen Läden wieder, diejenigen, welche sich hineingeflüchtet hatten, kamen heraus und faßten wieder Muth, und nun verbreitete sich auch endlich von Mund zu Mund die wahre Ursache dieses Schreckens.

Ein mit Baumwolle beladenes Kameel war in der engen Marktstraße ausgeglitten und hatte in seinem Fall eine Ladenthür eingedrückt. Das Krachen der zerbrochenen Thür die um das am Boden liegende Kameel sich sammelnde Menschenmenge, das Geschrei der Treiber und der Juden in dem Laden, dies alles hatte man ohne weiteres für den Anfang einer Empörung gehalten. Die Folge waren ein panischer Schrecken, Furcht und Entsetzen gewesen. Wenn in den Gemüthern der nothwendige Grad einer aufgeregten Stimmung vorhanden ist, so genügen schon unbedeutende Vorfälle, um eine allgemeine Panik hervorzubringen. Unglücklicher Weise waren sehr starke Gründe vorhanden, um eine solche Stimmung vorauszusetzen

Die Aufregung der Türken wuchs von Tag zu Tag; in ihrem Quartier fanden Ansammlungen statt und man hatte mit einem baldigen Angriff gedroht. Allein davon wußte ich noch nichts und an diesem Tage erwartete ich keine neuen Bewegungen.

Ich verabschiedete mich also von dem Juden, knöpfte mir den Rock über der Brust wieder zu, um das Geld, welches ich darunter verborgen hielt, besser zu schützen, und begab mich auf den Heimweg; aber kaum war ich in die Hauptstraße am Markt eingebogen, als ich von neuem Rufe und Schreien vernahm und bevor ich irgendwo Zuflucht suchen konnte, befand ich mich mitten in einem Haufen von Türken, die mit gezückten Schwertern in der Hand daher gestürmt kamen.

Wie ist es nur zugegangen, daß sie mich nicht zu Boden getreten, daß sie mich nicht niedergehauen haben? — Das vermag ich mir noch heute nicht zu erklären.

Der Menschenstrom riß mich mit sich fort; ich erhielt bald von dieser bald von jener Seite Fußtritte und Faustschläge; aber ich lief mit, vor Schrecken ganz von Sinnen, ohne zu wissen, wo ich hin gerieth, noch was aus mir werden sollte, — ja ohne überhaupt darüber nachzudenken. Es war alles wie ein Traum, — aber wie ein entsetzlicher Traum!

Ich kannte sehr wohl die Straßen von Smyrna, aber ich sah nicht, durch welche ich mit fortgeschleppt wurde, und ich erinnere mich ihrer auch heute noch nicht.

Ich entsinne mich nur, daß ich bei einer Biegung der Straße das Thor unseres Chans vor mir erblickte und dasselbe erkannte.

Es stand halb offen. Ich weiß nicht mehr, wie ich in den Chan und in mein Zimmer zu meinem Vater gelangte. — Das alles ist mir nur ganz wirr und unbestimmt in der Erinnerung geblieben.

Aus meinem Bette kam ich wieder zur Besinnung. Schwer athmend lag ich daraus ausgestreckt. Mein Vater hatte sich über mich gebeugt und bespritzte mir den Kopf mit kaltem Wasser.

Ich entsann mich, daß ich auf der Brust eine schwere Last fühlte, und erst da gedachte ich des Geldes, faßte mit der Hand nach dem Beutel und nahm ihn von der Brust weg.

Noch jetzt sehe ich das Lächeln meines Vaters, als ich ihm diesen Beutel übergab. Dieses Lächeln hielt ich damals für den Ausdruck seiner Befriedigung darüber, das Geld gerettet zu wissen. Erst viel später, als ich selbst Kinder hatte, begriff ich die wahre Bedeutung dieses Lächelns. Was liegt mir jetzt an dem Gelde? Nur um dich, mein Kind, bin ich bekümmert!

Das war es, was dieses Lächeln bedeutete: Mein Vater liebte mich zärtlich, leidenschaftlich. Niemals hat er mir’s gesagt, mir es niemals durch Ausbrüche von Zärtlichkeit zu erkennen gegeben. Erst als er gestorben war, als ich ihn nicht mehr an meiner Seite hatte, als ich mich all’ der Einzelheiten, der geringfügigsten Umstände unseres vieljährigen Zusammenseins erinnerte, — erst da begriff und würdigte ich seine Liebe zu mir in ihrer ganzen Tiefe. Woher diese Erscheinung? Muss man denn ein Gut erst verlieren, um seinen ganzen Werth zu empfinden? Mussten mich erst Unglück und Prüfungen heimsuchen, um mir Augen und Herz zu öffnen?

Indeß, wohin liefen denn diese Türken? Erst später habe ich es erfahren. Sie eilten nach dem Frankenviertel, und zwar mit den schlimmsten Absichten gegen diejenigen, welche dort wohnten.

Zum Glück holte der Pascha sie ein, und es gelang ihm, sie zu beruhigen. An diesem Tage geschah kein weiteres Unglück, die wahren Schrecken hatten noch nicht begonnen; allein dieser ihr Straßentumult, diese ersten Kundgebungen der bewaffneten Türken wider die Christen, dieses mein erstes Erleben einer wirklichen Gefahr ist mir viel leicht lebendiger in der Erinnerung geblieben, als alles, was ich später gesehen und gelitten.

Von diesem Tage an wurden die Türken immer angriffslustiger. Blut war noch nicht geflossen, aber Beschimpfungen, Drohungen, wilde Blicke, das Zurschautragen von Waffen, — das alles verkündete in unheimlicher Weise das Nahen des Sturmes, der sich wider uns entfesseln sollte.

Unsere Lage ward immer ernster, der Ausstand griff mehr und mehr um sich. Auf jeden Freiheitsruf der Griechen antwortete ein neuer Ausbruch des muselmännischen Fanatismus, bis endlich die Türken alle Schranken durchbrachen und wie Wilde zu morden und zu plündern anfingen.

Es drangen weder regelmäßige noch zuverlässige Nachrichten zu uns; allein auf irgend eine Weise gelangte doch ein Widerhall von diesen ersten Erschütterungen der nationalen Bewegung bis in den Winkel unseres Chans.

So erfuhren wir von den Dingen, die sich in der Wallachei zugetragen; so gelangten die Nachrichten zu uns, daß Morea sich erhoben, daß der Erzbischof Von Paträ und die Notabeln des Peloponnes sich an die Spitze der Bewegung gestellt, und zugleich verbreitete sich das Gerücht, daß auch Hydra und Spetsä sich empört hätten.

Wenn meine Erinnerung zurückkehrt in jene ruhmreiche Vergangenheit, wenn ich jene Ereignisse wieder an meinem Geiste vorüberschweben lasse und mir die Eindrücke klar zu machen suche, welche ich damals empfand, so muss ich sie gewissermaßen als eine Widerspiegelung der allgemeinen Stimmung jener Zeit betrachten; ich gelange oft zu dem Schluß, daß die sofortige Theilnahme unserer nautischen Inseln an der nationalen Bewegung vielleicht weit mehr, als man heut zu Tage begreift, dazu beitrug, die Erhebung zu kräftigen und weiter zu tragen. — Hierbei habe ich nicht die große materielle Unterstützung im Auge, welche die griechischen Schiffe unserem Volk gewährt, noch die glänzenden Waffenthaten, durch welche der hellenische Name sich einen neuen Kranz unsterblichen Ruhmes erwarb, — nein, das alles sahen und begriffen wir erst in der Folge; aber gleich von Anfang an, als wir, die wir fern vom Mittelpunkt der revolutionären Bewegung lebten, erfuhren, daß die Einwohner von Hydra, Spetsä und Psara die Fahne der Freiheit entfaltet hätten, wurden wir uns weit lebhafter bewußt, um was es sich handelte.

Die Schiffskapitäne von Hydra, Spetsä und Psara repräsentirten, — so zu sagen — durch ein sichtbares greifbares Element den allgemeinen gesammt-griechischen Charakter der Erhebung. Denn viele von ihnen waren weit und breit bekannt, ja viele wurden sogar als persönliche Freunde betrachtet, ihre Namen und Gesichter waren in allen Häfen, auf allen Märkten, wo es Griechen gab, wohl bekannt.

Als wir daher erfuhren, daß jene Männer, jene bekannten guten Freunde von uns sich für den Glauben und für das Vaterland schlugen, daß sie geschworen hatten, frei zu werden oder für das Vaterland zu sterben, da packte uns die Begeisterung weit mächtiger als bei der Nachricht von der Erhebung Ypsilandis’ oder selbst von dem Aufstande im Peloponnes.

Ich spreche hier von den ersten Anfängen des Kriegs und den ersten Eindrücken; später kam noch anderes hinzu was uns zum Bewußtsein brachte, wie mächtig die Bande waren, welche uns für immer unlöslich mit den Aufständischen vereinten.

Da die Türken überall wehrlose Männer, Frauen und Kinder hinschlachteten und in die Sklaverei schleppten, so trugen sie hinreichend Sorge dafür, daß wir uns beständig der Gemeinsamkeit unserer Abstammung bewußt blieben, selbst wenn wir hätten geneigt sein können, dieselbe zu vergessen.

Halte mir, lieber Leser, diese meine Abschweifungen zu Gute. Meine alte Hand vermag dem mächtigen Pulsschlag meines alten Herzens nicht zu widerstehen, und willig und gern verweilt sie bei den Erinnerungen an die Leiden, die mir aus meiner Jugendzeit her treu im Gedächtnis geblieben.

Es ist meine Absicht, mich auf die Erzählung meiner eigenen Lebensschicksale zu beschränken; allein das Leben eines jeden von uns bildet nur eine kleine Einzelheit, die aber eng verknüpft ist mit der Gesammtheit der uns umgebenden Ereignisse. Wie soll ich jedesmal die Aufregungen meiner bescheidenen Persönlichkeit von der Bewegung des allgemeinen Wirbelwindes trennen, in welchen sie mit hineingezogen wurde?

Aus diesem Grunde und auch weil ich ein alter Mann bin, kann ich vielleicht nicht immer beim Niederschreiben meiner Erinnerungen derartige Abschweifungen vermeiden. Aber du hast ja durchaus nicht die Verpflichtung, lieber Leser, mich bis zu Ende zu lesen.

Als du noch klein warst und deine Amme dir Märchen erzählte, da that sie das nicht blos, um deine Neugier zu befriedigen, sondern auch, weil sie selbst das Bedürfnis dazu fühlte. Vielleicht überwältigte dich dabei manchmal der Schlaf; sie aber fuhr fort zu erzählen, und beim Erwachen hörtest du nur noch das Ende der Geschichte. Das ist ohne Zweifel der Grund, warum dir von vielen Geschichten nur der Anfang und das Ende in der Erinnerung geblieben sind; vielleicht ahnst du nicht einmal, warum du denn die Mitte nicht kennst. Meine Geschichte hat eigentlich weder Anfang noch Ende; du darfst also jetzt gleich einschlafen, lieber Leser. Mich störst du dadurch nicht.

Die ersten Gerüchte von der Erhebung gelangten während der Fastenzeit zu uns. Welche Fastenzeit und welch ein Osterfest war das! Wir gingen regelmäßig in die Kirche, da man dort vorzugsweise die Neuigkeiten austauschte; dieselben waren oft falsch und übertrieben aber schließlich doch die einzigen, die wir erhielten.

Die Beschäftigung mit diesen Ereignissen wendete unseren Geist von dem Gottesdienste durchaus nicht ab. Im Gegentheil, das religiöse Gefühl war damals mächtig in uns; die Leiden unseres Volkes verkörperten sich uns gleichsam in der Passionsgeschichte Christi. Die Bußgebete der Großen Woche drückten in Wahrheit den Seelenzustand der Gläubigen aus.

Um die Mitte der ,,Großen Woche“ verbreiteten sich unheimliche Gerüchte — Verhaftungen und Gütereinziehungen hatten in Konstantinopel stattgefunden; viele vornehme Griechen waren enthauptet worden.

Am Ostersonntag erfuhren wir, daß auch der Großdragoman Murusis ermordet worden sei. Dies alles warf einen Trauerschleier über unsere fröhlichen Gesänge von der Auferstehung Christi.

Nach einigen Tagen Verbreitete sich eine neue Schreckensnachricht. Der Patriarch war erhängt worden! Seine Leiche war den Juden zur Verhöhnung und Beschimpfung übergeben worden! Diese Nachricht schnürte uns die Brust zusammen und erfüllte uns mit Zittern und Beben.

Wir fühlten uns alle von der Last einer doppelten Empfindung niedergedrückt: von dem Entsetzen, das jedem Christen, jedem Griechen diese Schandthaten wider die geheiligte Person des Patriarchen, wider das Oberhaupt unseres Volkes einflößten, und von dem Gedanken, daß auch von uns fortan keiner mehr seines Lebens sicher sei.

Wenn die Regierung des Sultans selbst solche Schändlichkeiten in der Hauptstadt wider die Führer, wider die bedeutendsten Männer des Griechenvolkes zu begehen wagte, in welchen Gefahren schwebten dann wir einfachen Rajas Angesichts der zügellosen thierischen Wildheit der Türken zu Smyrna und noch mehr der in der Levante wohnenden Moslim!

Schon seit einigen Tagen hatte man in der Umgegend von Smyrna ungeordnete Horden von bewaffneten Türken sich zusammenrotten sehen, die der Durst nach Blut und Beute aus dem Innern Asiens herbeigelockt hatte.

Der Pascha gab sich noch den Anschein, als suche er für die Sicherheit der Einwohner zu sorgen, und ließ dieses wilde Gesindel nicht in die Stadt eindringen; aber schon seine Nähe entflammte die in Smyrna selbst wohnenden Türken, welche eine immer drohendere Haltung annahmen.

Und von den Drohungen gingen sie zu Thaten über.

Gar oft fiel die Hand auf den Dolch, der Dolch glitt leicht aus der Scheide, und viele Unschuldige wurden verwundet und einige in den Straßen von Smyrna ermordet.

Allein dies alles war nur das Vorspiel zu dem eigentlichen Opfer. Erst später kamen die blutigen Orgien, das Morden, Brennen und Wegschleppen, nicht blos auf den Straßen und Märkten, in den Häusern der Christen, sondern auch unter den schützenden Fahnen der Konsuln, ja sogar noch an Bord der europäischen Schiffe! Hunderte von Flüchtlingen wurden von dort fortgeschleppt, um niedergemetzelt zu werden.

Allein all diese Dinge erfuhr ich erst später. Ich habe sie nicht selbst mit erlebt und hier will ich nur das nieder schreiben, was ich gesehen und gelitten habe.

Eine große Menge Menschen hatte sich bereits heimlich durch die Flucht zu retten begonnen. Tag für Tag verschwand irgend einer von unseren Bekannten. Was war aus ihm geworden? Hatte man ihn ermordet oder hielt er sich versteckt? — Endlich erfuhren wir, daß er geflüchtet sei.

Das Beispiel der Fliehenden und die von Tag zu Tag wachsende Gefahr hielt uns, meinen Vater und mich, in unaufhörlicher Beängstigung. Auch uns erfaßte das Verlangen, heimlich zu fliehen; unaufhörlich waren wir auf Mittel und Wege bedacht, diesen Plan auszuführen. Aber das ward immer schwieriger; denn die türkischen Behörden gestatteten den Rajas nicht mehr abzureisen. Es wurde sogar behauptet — allein das wollten wir nicht glauben— die fremden Konsuln hätten den Befehl erhalten, alle diejenigen zurückzuweisen, welche auf fremden Schiffen Zuflucht suchen sollten.

Wir glaubten es nicht und dennoch war es wahr! … Glücklicherweise gab es unter den Konsuln und Schiffskapitänen noch Männer von Herz, welche sich nicht dazu hergaben, die Rolle türkischer Henkersknechte zu übernehmen!

Um diese Zeit kam ein alter Freund meines Vaters nach Smyrna, der Kapitän Wiswilis, der eine unter russischer Flagge fahrende Galeote führte.

Mein Vater athmete erleichtert auf, als er ihn eines Morgens in den Chan kommen sah, um uns zu besuchen. Der wackere Kapitän kam, um uns sein Schiff anzubieten. In drei Tagen, nach Verladung seiner Fracht, versprach er uns nach Chios zu bringen.

„Nach Chios?“ rief ich, als mein Vater mir seinen Entschluß, dorthin zurückzukehren, mittheilte. „Werden wir uns dort sicherer befinden als hier ?“

„Dort werden wir wenigstens mit deiner Mutter und deinen Schwestern zusammen sein. Entweder werden wir gemeinsam gerettet oder wir kommen alle zusammen um!“

In der Zwischenzeit machten wir unsere Vorbereitungen. Aber wir wollten unsern geheimen Plan nicht durch übel angebrachte Maßregeln Verrathen. Wir beschlossen, unsere Waaren Gottes Schutz und unser ausstehendes Geld dem guten Willen unserer Schuldner anheimzugeben, falls es diesen gelingen sollte, sich selbst zu retten.

Wir nahmen all unser baares Geld an uns, und drei Tage später sahen wir mit klopfendem Herzen dem Sonnenuntergang entgegen, da uns unserer Verabredung gemäß um diese Zeit der wackere Kapitän erwarten wollte.