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#Wissenswert

17.11.2021

Angesichts der neuen Kavafis-Ausgabe durch die Edition Romiosini in der Übersetzung von Wolfgang Josing, überarbeitet von Danae Coulmas, aber auch anlässlich der einhundertjährigen Geschichte der Texte von Kavafis in deutscher Sprache, verfasste Miltos Pechlivanos ein ausführliches Nachwort über die deutschsprachige Kavafis-Rezeption. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf einer Kritik der übersetzerischen und editorischen Strategien, sondern auf den jeweiligen Akteur*innen der literarischen Mobilität. Zugleich wurde der Versuch unternommen, einige der Akteur*innen anhand charakteristischer Proben ihrer Vermittlungsfunktion bzw. ihres Dialogs mit Kavafis auch einmal zu Wort kommen zu lassen.

Με αφορμή την έκδοση του «κανόνα» των 154 ποιημάτων του Καβάφη από την Edition Romiosini, σε μετάφραση του Wolfgang Josing και επιμέλεια της Δανάης Κουλμάση, ο Μίλτος Πεχλιβάνος συνέταξε μια αναλυτική μελέτη για την πρόσληψη των καβαφικών κειμένων στον γερμανόφωνο χώρο, 100 χρόνια μετά την πρώτη διαμεσολαβητική επέμβαση του νεοελληνιστή Karl Dieterich.

Kavafis-Übersetzungen und internationale Bibliogrpaphie

Kavafis-Übersetzungen und internationale Bibliogrpaphie
Bildquelle: Kostas Kosmas

Eine Chronik zum deutschsprachigen Konstantinos Kavafis (1921-2021)

Den Anlass für ein Nachwort zur deutschen Rezeption von Konstantinos Kavafis, im Zusammenhang der Neuauflage seiner Gedichte in der Übersetzung von Wolfgang Josing durch die Edition Romiosini/Centrum Modernes Griechenland, bietet ein aktuelles Jubiläum: die inzwischen einhundertjährige Geschichte der Texte von K. in deutscher Sprache.

Anstatt den bereits vorhandenen noch eine Interpretation hinzuzufügen oder auch hier das schon mehrmals auch in deutscher Sprache Nacherzählte über K.s Leben bzw. die Veröffentlichungspraktiken des Alexandriners wiederzugeben, beschränken sich deswegen die folgenden Seiten auf eine Chronik der Ausgaben, der kritischen und literarhistorischen Analysen und der produktiven Rezeption der Gedichte von K. in deutscher Sprache. Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, bietet die Zeitleiste eine Auswahl aus wichtigen Meilensteinen bzw. repräsentativen Momentaufnahmen dieses Jahrhunderts der Bekanntschaft der deutschen Leser*innen mit Cavafy, Cavaphis, Cavafis, Kavaphis oder Kavafis, einem der wenigen neugriechischen Autor*innen mit garantierter Verbreitung in den konkurrierenden weltliterarischen Gemeinschaften des 20. und 21. Jahrhunderts.[1]

Die Vorentscheidung, eine Rezeptionsgeschichte als Chronik abzubilden, führte dazu, dass, mit E. M. Forster gesprochen, das showing der Fakten dem telling einer Erzählung vorgezogen werden musste. Die einzelnen Stränge der Narration bzw. die Erwartungshorizonte der Deutung, ob die Entdeckung von K. im Exil nach 1933, primär im Netzwerk der Georgianer, die Kanonisierung des Dichters im musée imaginaire der ästhetischen Moderne und deren Zeit- und Epochenbewusstsein bzw. seine oft widersprüchliche Historisierung in den Interpretationen der Altphilologen, Archäologen oder Neogräzisten, aber auch der K. der gay community und der queer studies mit seiner strategischen Insistenz in den letzten Jahrzehnten, gewinnen so allmählich beim Durchstreifen der Zeitleiste an Gestalt – und überkreuzen sich offensichtlich.

Der Schwerpunkt liegt für diese Chronik nicht auf einer Kritik der übersetzerischen bzw. editorischen Strategien,[2] sondern auf den jeweiligen Akteur*innen der literarischen Mobilität, zu deren Vitae die Artikel im Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen/Επιτομή των ελληνογερμανικών διασταυρώσεων des Centrum Modernes Griechenland Weiterführendes bieten. Hier wurde zugleich der Versuch unternommen, einige von ihnen anhand charakteristischer Proben in ihrer Vermittlungsfunktion bzw. ihrem Dialog mit K. auch einmal zu Wort kommen zu lassen. Alles in allem ging es darum, multiple Blickwinkel zu gewinnen, um einem Dichter wieder zu begegnen, auf dessen leichten Winkel zum Universum E. M. Forster in seiner feinsinnigen Momentaufnahme von 1923 aufmerksam gemacht hatte:

Das moderne Alexandria ist wohl kaum eine Stadt der Seele. Gegründet auf der Basis von Baumwolle im Wettbewerb mit Zwiebeln und Eiern, schlecht gebaut, schlecht geplant, ausgestattet mit einem schlechten Abwassersystem – viel Negatives lässt sich über sie sagen, und das meiste davon wird von ihren Einwohnern gesagt. Und doch können einige von diesen eine erfreuliche Erfahrung machen, wenn sie durch die Straßen gehen. Sie hören den eigenen Namen, ausgesprochen mit einer festen, aber dennoch nachdenklichen Stimme – einer Stimme, die weniger eine Antwort zu erwarten als vielmehr der Individualität zu huldigen scheint. Sie drehen sich um und erblicken einen griechischen Herrn mit einem Strohhut, der völlig regungslos in einem etwas leichten Winkel zum Universum steht. Seine Arme sind womöglich ausgestreckt. „Oh, Kavafis…!“ Ja, es ist Herr Kavafis, und er geht entweder gerade von seiner Wohnung ins Büro oder von seinem Büro in die Wohnung. Wenn ersteres der Fall ist, verschwindet er, sobald man ihn sieht, mit einer leichten Geste der Verzweiflung. Wenn letzteres geschieht, mag er sich dazu überreden lassen, einen Satz zu beginnen – einen immens komplizierten, jedoch trotzdem wohlgeformten Satz, voll von Einschüben, die niemals durcheinandergeraten, und Einschränkungen, welche tatsächlich einschränken; ein Satz, der sich mit Folgerichtigkeit auf ein vorhersehbares Ende zubewegt, jedoch auf ein Ende, welches jedes Mal lebendiger und aufregender ist als vorhergesehen. Manchmal wird der Satz auf der Straße beendet, manchmal fällt er dem Verkehr zum Opfer, manchmal erstreckt er sich bis in die Wohnung. Er handelt vom durchtriebenen Verhalten des Kaisers Alexios Komnenos im Jahr 1096 oder von Oliven, ihren Möglichkeiten und ihrem Preis, vom Geschick eines Freundes oder von George Eliot oder von den Dialekten des inneren Kleinasiens. Vorgetragen wird er in derselben Leichtigkeit auf Griechisch, Englisch oder Französisch. Und trotz seines intellektuellen Reichtums und seines menschlichen Ansehens, trotz der gereiften Wohltätigkeit seines Urteils hat man das Gefühl, dass er ebenfalls in einem etwas leichten Winkel zum Universum stehe: Es ist der Satz eines Dichters.[3]  

 ***

 1921

Drei Gedichte von Kavaphis. Ins Deutsche übertragen von K. Dieterich“. In: Das literarische Echo. Halbmonatsschrift für Literaturfreunde. Jg. 24 (1921/1922), Sp. 146-147.

Den deutschsprachigen Leser*innen wurde K. zum ersten Mal vom Leipziger Neogräzisten Karl Dieterich (1869-1935) mit den Gedichten Lebenskerzen[Κεριὰ],[4] Treulosigkeit [Ἀπιστία] und Nachmittagssonne [ἣλιος τοῦ ἀπογεύματος] in der Rubrik „Proben und Stücke“ der Zeitschrift Das literarische Echo vorgestellt (s. Bibliographia, B416). Dieses erste deutsche Rezeptionszeugnis erfolgte nur zwei Jahre nach der Übersetzung dreier Gedichte von K. in der einflussreichen Londoner Zeitschrift The Athenaeum (und der Veröffentlichung im selben Heft des Essays von E. M. Forster „The Poetry of C. P. Cavafy“), sowie zwei Jahre nach der ersten italienischen Übersetzung von fünf Gedichten in der Zeitschrift von Alexandrien Grammata von Atanasio Catraro und der Vorstellung von K. für die Leserschaft der Zeitschrift Mercure de France durch deren Herausgeber Philéas Lebesgue. 1921 erfolgte ebenfalls die erste französische Übersetzung von fünf Gedichten in der Anthologie des Neogräzisten Hubert Pernot La Grèce actuelle dans ses poètes.

Nachmittagssonne

Dies Zimmer hier – wie kenn ich’s doch genau!

Vermietet wird’s nun samt dem Nebenzimmer

Als ein Geschäftskontor. Das Haus verwandelte

Sich in Büros von Maklern, Händlern, Kaufmannsfirmen.

Und doch, wie gut kenn ich’s dieses Zimmer!

Dicht an der Tür hier stand das Kanapee.

Ein bunter türk’scher Teppich lag davor;

Daneben die Konsole mit zwei gelben Vasen,

Rechts – nicht doch, gradezu ein Spiegelschrank.

Seitwärts am Fenster aber stand das Bett,

Darin wir uns so oft der Liebe freuten…

Nachmittagssonne ruhte hell darauf.

Um vier Uhr nachmittags, da schieden wir,

Für eine einz’ge Woche nur, doch ach!

Die eine Woche ward zur Ewigkeit…

Für dasselbe Heft der Zeitschrift Das literarische Echo verfasste Dieterich mit seinem Beitrag „Griechischer Brief“ (s. Bibliographia, Δ137) einen Abriss der zeitgenössischen griechischen Literatur für die Rubrik „Echo des Auslands“ (Sp. 170-176); in diesem Überblick erfuhr man über K. (Sp. 171-172) unter anderem eine eigenwillige Interpretation, die die Stimme des Sprechers im Gedicht Denk’ es, o Leib [Θυμήσου, Σῶμα…] mit der „einer alten Lustdirne“ identifizieren wollte:

Objektive Seelendarstellung ist […] der Grundzug im Wesen der eigenartigen Kunst Konst. Kavaphis aus Alexandria. Auf den ersten Blick glaubt man es mit einem übersättigten alten Wollüstling zu tun zu haben, so sehr dominieren in seinen Gedichten, offen und versteckt, darauf deutende Situationen, sei es, daß er den noch knabenhaft unsicheren Jüngling schildert, dem er es ansieht, daß er zum ersten Mal gesündigt hat („Auf der Straße“[Ἐν τῆ Ὁδῷ]), oder die Gedanken einer alten Lustdirne an alle die Begierden, die sie in Augen und Stimmen erregt („Denk’ es, o Leib“), daß er selbst auf sein früheres Leben anspielt, aus dessen Verirrungen ihm die ersten Umrisse seiner Kunst erwuchsen („Ein tiefer Sinn“ [Νόησις]), daß er beim Betreten eines Geschäftshauses darin die Räume erkennt, in denen er einst Tage der Freude genossen [hat] („Nachmittagssonne“). Aber nirgends ist hier etwas von Frivolität zu finden, sie tritt völlig zurück vor der Freude an der seelischen Analyse und realistischen Stimmungsmalerei. Das Mitschwingen seelischer Stimmungen ist für Kavaphis’ poetische Sensibilität bezeichnend, sie bewahrt ihn vor krassem Sensualismus und erzeugt jene Zartheit, die seine Gedichte auch dann verklärt, wenn das Zerebrale in ihnen überwiegt. Das trifft namentlich zu für seine Modernisierungen von Szenen und Gestalten aus der Verfallzeit des griechisch-römischen Altertums, in dem er sich besonders heimlich fühlt, weil es seinen eigenen Stimmungen entgegenkommt und er ja in Alexandria, dem Zentrum jener raffinierten Kultur, zu Hause ist. So nüchtern auch seine hierher gehörenden Gedichte sind, so wirken sie doch durch die impressionistische Kraft der Darstellung dramatisch, ob er nun die innere Hohlheit des alexandrinischen Kaiserkultes („Die Alexandrinerkönige“ [Ἀλεξανδρινοὶ βασιλεῖς]) oder die des künstlerischen Schaffens („Damon der Bildhauer“ [Συνοδεία τοῦ Διονύσου]) oder den eitlen Philhellenen ironisiert. Damit wächst er zugleich zum Sittenrichter über jenes morsche Geschlecht empor und läßt schließlich in einer Reihe moral-philosophischer Gedichte („Thermopylen“ [Θερμοπύλες]; „Troer“ [Τρῶες]; „Die Stadt“ [Πόλις] u.a.) den tiefen ethischen Kern seiner Persönlichkeit erkennen, die schon über Griechenland hinweg nach Westeuropa gedrungen ist, wo sich ernste literarische Zeitschriften („Mercure de France“, Bd. 136 [1919] 805 f. und „Athenaeum“, April 1919) mit ihr beschäftigt haben.

1928

„Konstantin Kavaphis“. In: Neugriechische Lyriker. Mit einem Geleitwort von Gerhart Hauptmann. Ausgewählt und übertragen von Karl Dieterich. Leipzig, H. Haessel, 1928, S. 69-74.

In seiner Anthologie (s. dazu Bibliographia, B25, und vgl. Marilisa Mitsou, „Griechenfreundschaft gegen Philhellenismus? Karl Dieterichs Lyrik-Anthologie als erste Kanonbildung“, in: Hellas verstehen, S. 243-267) wählte Karl Dieterich neben den drei Gedichten von 1921 auch folgende aus: Mauern [Τείχη], Stimmen [Φωνὲς], Morgen am Meere [Θάλασσα τοῦ Πρωϊοῦ], Die Stadt, Troer, Ionien [Ἰωνικὸν], Alexandrinerkönige, Antonius gottverlassen [Ἀπολείπειν θεὸς Ἀντώνιον], Schritte [Τα Βήματα]. Mehrere Gedichte der Anthologie, so Dieterich in seinen Danksagungen, wurden vor der Drucklegung von der „Vortragskünstlerin Fräulein Eleonore Ziebarth […] in verschiedenen Zweigvereinen der Deutsch-Griechischen Gesellschaft öffentlich vorgetragen“; für eine Performance dieser Art 1927 in Athen, vgl. Bibliographia, Δ330. In seiner „Einführung“ (S. IX-XVI) unternahm Dieterich folgenden Vergleich (S. XIV) zwischen K. und dem Dichter Angelos Sikelianos (1884-1951), dessen Sprache „sich dem dithyrambischen Schwunge Hölderlin-Pindars allzu bewußt nähert“:

Kavaphis’ Stärke ist sowohl die scharf pointierte, epigrammatisch knappe Schilderung historisch und kulturell bedeutungsvoller Momente aus der alexandrinisch-römischen Dekadenzzeit mit starker Herausarbeitung des Morbiden („Alexandrinerkönige“, „Schritte“) und Tragischen („Antonius gottverlassen“) oder auch dramatischer Szenen aus dem hohen Altertum („Treulosigkeit“), zum Teil mit symbolischer Beziehung auf die griechische Gegenwart („Troer“), wie auch die bohrende Selbstanalyse („Lebenskerzen“, „Mauern“) und das eigentümliche Schwanken zwischen Sensualismus und Ästhetentum („Nachmittagssonne“, „Morgen am Meere“). Kavaphis hat seine eigene sensible Anlage auf seine Dichtung übertragen und darum seine antiken Stoffe ebenso modern gestaltet, wie Sikelianos seine Dichtungen, auch da, wo sie Modernes behandeln („Goethe in Rom“, „Die Mutter Gottes von Sparta“), einen antiken Charakter zu geben, sie mit antikem Empfinden zu erfüllen weiß. […] Kavaphis und Sikelianos sind Gegenpole: Kavaphis ist experimentell, Sikelianos visionär; Kavaphis Maler und Musiker, Sikelianos Plastiker; Kavaphis realistisch-nüchtern, Sikelianos feierlich priesterhaft. In Kavaphis’ Gedichten spürt man die warmfeuchte, schwüle Luft Alexandrias, in denen von Sikelianos die erfrischende Seebrise der Insel Leukas.

1936

Die engste Verbindung zwischen antikem und modernem Griechentum, die in der Dichtung von Kavafis hergestellt wird, blieb jenseits der Alpen völlig unbekannt, so dass der Wanderer nach Ithaka eine ungeheure Überraschung erlebte, als ihm im März 1936 der verdienstvolle Kritiker des Elevtheron Vima in seiner Buchhandlung zum ersten Mal Antonios vor Augen führte. (Helmut von den Steinen, „Rückkehr nach Griechenland vom Osten“)

Die Entdeckung von K. erfolgte für Helmut von den Steinen (1890-1956), den Wanderer nach Ithaka des vorangestellten autobiographischen Passus aus einem Aufsatz der 50er Jahre, in den ersten Monaten seines Exils in Griechenland; der künftige Historiograph der neugriechischen Literatur und damals zusammen mit Marguerite Yourcenar Übersetzer von K.-Gedichten auf Französisch, K. Th. Dimaras, war derjenige, der ihm mit der posthumen K.-Erstausgabe von 1935 vertraut machte. Von den Steinen – der sich rückblickend als „Anhänger der deutschen Mystik“ mit ihrem Höhepunkt in Hölderlin und Nietzsche und ihrer endgültigen sprachlichen Kristallisation in der Dichtung Georges empfand, und der „im März 1936 auf der Stadionstraße [i.e. in der Athener Librairie Kauffmann] nach Abenteuern suchen musste, statt in Heidelberg zu dozieren oder in München zu dichten“ (ibid.) – entwickelte sofort den Plan einer deutschen Übertragung, der ihn auf allen Stationen seiner Emigration bis zur Teilveröffentlichung von 1953 (s. unten) begleiten würde. (Vgl. zu von den Steinen den von Torsten Israel und Miltos Pechlivanos herausgegebenen Band: Helmut von den Steinen, An der Schwelle Europas. Eine Begegnung mit Griechenland und der neugriechischen Literatur, Berlin, Edition Romiosini, 2021, wo weiterführende Literatur im Nachwort angeführt wird; Chryssoula Kambas, „Athen und Ägypten. Helmut von den Steinen, Übersetzer von Kavafis“, in: Hellas verstehen, S. 289-328; Lyriktransfer, S. 42-55.)

1937

Darf ich Ihnen, ungezwungen meine Berichte fortsetzend, eine Nebenarbeit von mit mitteilen. Cavaphis, dessen Verse ich schicke, ist der europäisch bei weitem interessanteste Neugrieche, obwohl ihn andere an rein dichterischer Kraft übertreffen. Diesen fehlt aber die strengste geistige Atmosphäre. In den hiesigen Verhältnissen habe ich den sicheren Maßstab für die Gewichtigkeit dieser Dinge verloren. Darum wäre ich äußerst dankbar, falls dieser seltsame Verwandte von Schuler Ihre Teilnahme erregt, Ihr Urteil über seine Bedeutung zu erfahren. (Helmut von den Steinen, Brief an Karl Wolfskehl, 21.5.1937 – DLA Marbach)

Mit dieser Mitteilung der Nebenarbeit Helmut von den Steinens in Athen an Karl Wolfskehl (1869-1948) in Recco (Genova) hat die Beschäftigung der exilierten Georgianer mit K. angefangen; als Motivation dürfte weniger die Frage nach der Verbindung zwischen antikem und modernem Griechenland (s. oben, 1936) gelten als jene nach den gegebenen oder projizierten Wahlverwandtschaften zwischen K. und Stefan George wie dem Münchner Kosmikerkreis. Den Vergleich etwa mit Alfred Schuler hat Kambas nicht unberechtigt als „wenig dienlich“ bewertet (in: Hellas verstehen, S. 311); auf die „lebendigen Symbole“ Alfred Schuler und Kaiserin Elisabeth hatte Karl Wolfskehl in seiner raschen und enthusiasmierten Reaktion (s. Karl Wolfskehl, Briefwechsel aus Italien 1933-1938, hrsg. von Cornelia Blasberg, Darmstadt, Luchterhand Literaturverlag, 1993, S. 196-197, und korr. das Datum: 26.5.1937) rekurriert:

Was Sie mir in offenbar unheimlich gelungener Umdichtung vorbringen, ist das erstaunlichste Zeugnis einer dichterischen und mysteriosen Verbundenheit mit der Welt, für die Schuler und Elisabeth uns die lebendigen Symbole gewesen sind und immer bleiben. Dieser Alexandrier weiß um die Gewalten, erkennt das Kosmische im Sinne Schulers, und die Essenzen, die es nähren, daraus es sich immer erneuern kann, durchfluten seine Seele. Unheimlich echt ist das alles, mir dabei noch unbegreiflich, aber höchst erwünscht, höchst erfreuend zu erfahren, daß genau zur Zeit unsrer mit Nietzsche beginnenden Erleuchtungen auch am Ostsaum Europens die gleichen Leuchten „aufgluteten“ (ein Schulerisches Wort), denn die ungeheure Kraft, ja die Wirklichkeit und Tiefenherkunft dieser purpurnen Wellenkreise wird dadurch aufs bedeutsamste bestätigt. Wirklich: die alten Herde flammen wieder auf, das Herz der Erde selbst schlägt pochend nach außen!

Aber all dies sage ich nur vorläufig und gleich in der ersten Erschütterung. Die Welt dieses Kavaphis – ich meine nicht die Motive sondern deren inneren Reichtum – ist gewiß nicht so voll von Wundern wie die unserer großen Symbole. Aber es ist die gleiche Welt, und die großen Bilder schreiten oder schweben in der Luft, im Äther echter Aufrufung leibhaft und wie unter Lächeln gebannt, vor allem aber: Die Wirklichkeit alles dessen ist ihm aufgegangen, diesem neuhellenischen Dichter! […] Und dazu kommt eine Stärke, eine Innigkeit, eine Freiheit und Nähe im Bildwort, die fast ans Letzte rührt. Dichterisch angesehen begegnen wir etwa der Stufe der ‘Hirten- und Preisgedichte’ [von George], aber innerhalb dieses Bereichs strömen eben, brechen eben aus all die Quellen und Urgewalten, die uns selber, uns alle erschüttert und bedingt haben seit der Frühzeit. Wie wenig fin de siècle war dies unheimliche Jahrhundertende!

Die Nähe zu Schuler ist oft so erstaunlich, daß man von außen abwägend gradezu an einen direkten Bezug glauben müßte, wüßte man nicht um die tiefe unausweichliche Einheit dieser Ur- und Wirklichkeit, wo sie auch auftaucht. In Wahrheit handelt es sich hier um echtes Zwillingstum, um dessen reinstes Beispiel. Die Nähe geht bis in die von Ihnen mit großem Glück und Verständnis nachgebildeten Sonderbarkeiten, trockenen oder räsonnierenden oder abgegriffenen Ausdrucks und die Denkart, die alles Eigenerleben „essentiell“ findet, tief ernst nimmt, magisch und mystisch wertet – und dies alles mit vollstem, gewissestem Rechte!

Sie haben eine große Entdeckung gemacht, Helmut, und ich danke Ihnen von Herzen für deren sofortige Mitteilung.

Bestätigt durch diese Reaktion, wandte sich von den Steinen am 20.10.1937 an die Nachlassverwalterin des Dichters Rika Sengopoulou mit der Bitte um die Autorisierung der deutschen Ausgabe. Schon im Sommer desselben Jahres hatte Sengopoulou in Alexandrien von diesem Plan über den Maler Takis Kalmouchos (1895-1961) erfahren, der 1935 zuständig für die Illustrationen in der posthumen K.-Erstausgabe gewesen war: „Ich hatte das Vergnügen, im Haus von Kazantzakis Herrn von den Steinen zu treffen – ein deutscher Gelehrter und griechischkundig – der sich sehr für den Verstorbenen interessiert. Er hat alle seine Gedichte (nach Kazantzakis’ Meinung meisterhaft) ins Deutsche übersetzt und beabsichtigt, sie zu veröffentlichen. Ich habe ihm alle Informationen gegeben, die ich konnte, und da ich sicher bin, dass er ein wertvoller Mann ist, empfehle ich ihn Ihnen, um ihn bei der Veröffentlichung, die er vorhat, zu unterstützen“(Brief an Rika Sengopoulou, 19.8.1937 – Griechisches Literarisches und Historisches Archiv).

„Ich habe mich mit einigen Verlagen in Verbindung gesetzt, aber ich habe noch keinen gefunden, der die Gedichte ohne einen Beitrag drucken würde“, schrieb 1938 von den Steinen an Sengopoulou (Kavafis Archiv), wobei im Brief an Wolfskehl vom 29.9.1938 über die Ablehnung des Verlags Benno Schwabe in Basel berichtet wird (vgl. dazu Hellas verstehen, S. 312-313). Sowohl aus dem Kavafis-Archiv als auch aus dem Briefwechsel mit Wolfskehl lässt sich schließlich die Einmischung noch eines Georgianers in die Gespräche in Alexandrien feststellen, des seit 1934 dorthin emigrierten Maschinenbauingenieurs Hans Brasch (1892-1950), Klassenkamerad von Walter Jablonski (1871-1962) in Berlin (s. Achim Auernhammer u.a., Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, Berlin, De Gruyter, 2012, S. 1309-1311). Schon am 7.6.1937 schrieb er an Alekos Sengopoulos: „Dear Sir, as a friend of the late German poet Stefan George I should be very glad to meet you on behalf on Mr. Kavaphis’ poetry of which my friends and I are highly impressed“ (Kavafis-Archiv).

 



[1] Als unverzichtbar für die Entscheidung, welche Stationen ausgewählt und gesichtet werden mussten, hat sich die folgende Dissertation erwiesen: Maria Biza, Deutsch-griechischer Lyriktransfer im 20. Jahrhundert. K. Kavafis, G. Seferis und J. Ritsos in deutschen Übersetzungen, Bearbeitungen und Anthologien, Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie, München, LMU München, 2017 – im folgenden Lyriktransfer. Weitere Abkürzungen: Bibliographia = D. Daskalopoulos, Βιβλιογραφία Κ. Π. Καβάφη (1886-2000) [Bibliografie K. P. Kavafis (1886-2000)], Thessaloniki, KEG, 2003; Hellas verstehen = Chryssoula Kambas und Marilisa Mitsou (Hrsg.), Hellas verstehen. Deutsch-griechischer Kulturtransfer im 20. Jahrhundert, Köln u.a., Böhlau, 2010; Synomilontas = Nasos Vagenas, ΣυνομιλώνταςμετονΚαβάφη. Ανθολογίαξένωνκαβαφογενώνποιημάτων[Im Gespräch mit Kavafis. Anthologie ausländischer Gedichte à la manière de Kavafis], Thessaloniki, KEG, 2000; Compendium = Compendium der deutsch-griechischen Verflechtungen/Επιτομή των ελληνογερμανικών διασταυρώσεων, hrsg. von Alexandros Kyrtsis und Miltos Pechlivanos (comdeg.eu). Meine Forschung wurde gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder innerhalb des Exzellenzclusters Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective – EXC 2020 – Projekt-ID 390608380.

[2] Neben den systematischen Bemerkungen von Biza, die auch einen Überblick der Rezensionen für die jeweiligen K.-Übersetzungen bietet, und dem Aufsatz von Maria Oikonomou „Kapital und Alterität. Zwei deutsche Kavafis-Ausgaben“ (in: Hellas verstehen, S. 329–355), s. dazu auf Griechisch die Einleitung von Eleni Torossi in Synomilontas, S. 121-122, und den Überblick von Niki Eideneier „Ο Καβάφης στη Γερμανία“ [Kavafis in Deutschland] in der Zeitschrift To Dentro 145/146 (2006), S. 75-82 sowie den Essay von Alexandra Rassidakis „Kavafis für deutschsprachige Leser:innen: Übersetzerische und editorische Strategien“, in: Compendium, mit dem Fazit: „Die Betrachtung der deutschen Kavafis-Ausgaben führt zu einem doppelten Fazit: Einerseits scheint Konsens zu herrschen, dass es sich um einen Dichter handelt, der das deutsche Publikum interessiert bzw. interessieren sollte – nur so erklären sich die wirklich zahlreichen Ausgaben über einen größeren Zeitraum hinweg. Dies ist nicht weiter verwunderlich, handelt es sich doch um einen Dichter, der, wie die breite, weltweite Rezeption bezeugt, einen festen Platz im Kanon der Weltliteratur innehat. Anderseits herrscht offenbar die Meinung, dass Kavafis Dichtung an sich bzw. als solche dem deutschen Publikum nicht zugänglich sei, weshalb, über die biographischen Informationen hinaus, diverse Stützen in Form von Paratexten dem Leser bereitgestellt werden. Und dies weit mehr, als es bei anderen Dichtern für nötig erachtet wird und wie es für deutschsprachige Dichter kaum üblich ist. Durch ihre Aufmachung richten sich diese Ausgaben an jeweils unterschiedliche Lesergruppen, man fragt sich allerdings, ob eine schlichte Ausgabe von Kavafis Dichtung – Gedichte ,pur‘ –nicht ein breiteres Publikum ansprechen würde; eben jenes Publikum, das sich an der Lyrik an sich erfreut, etwa die Besucher von Enzensbergers Museum der modernen Poesie, in dem Kavafis, mit sechs Gedichten (in der Übersetzung von H. von den Steinen) vertreten, seit 1960 seinen Platz zwischen seinen internationalen Zeitgenossen gefunden hat.“

[3] Pharos and Pharillon, New York, Alfred A. Knopf, 1962, S. 91-92 (eigene Übersetzung).

[4] Nach den deutschen Titeln von Kavafis-Texten werden in eckigen Klammern die griechischen Originaltitel angegeben; ausgenommen sind die Titel der Übersetzung von Wolfgang Josing, die im Anhang dieser Ausgabe angegeben werden.

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