#Lesestoff
19.12.2022
Die alte Dame bestellte einen Klempner, um einen Boiler reparieren zu lassen, doch die Arbeit war zu einfach, vielleicht nur ein Vorwand. Nun bietet sie ihm an, etwas von ihren Weihnachtsplätzchen zu nehmen und mit ihr am Weihnachtsbaum Karten zu spielen. Und er macht mit.
Dimitris Nollas, dem das CeMoG im vergangenen Oktober einen Workshop widmete, ist ein Meister der knappen Form, Randfiguren sind seine Protagonisten. Wie in dieser kurzen Weihnachtsgeschichte, die mit dem Versprechen einer endlosen Erzählung endet, nur dass hier die Scheherazade ein Migrant ist und der König eine alte Dame.
Die Erzählung Verlorene Spiele, übersetzt von Hans Eideneier, wurde im Band Schiffbrüchige und andere Erzählungen durch die Edition Romiosini veröffentlicht.
Το χριστουγεννιάτικο διήγημα του Δημήτρη Νόλλα Τα καμένα χαρτιά συμπεριλαμβάνεται στον τόμο Schiffbrüchige und andere Erzählungen της Edition Romiosini.
Dimitris Nollas, Verlorene Spiele
»Hast du kein Kleingeld?«, fragte der Wirt beim Anblick des Fünfzigers gereizt, als er dem Gast eine Portion Gyros und ein Glas Bier hinstellte. Der begann nervös in den Taschen zu wühlen und Münzen zu suchen und hatte dabei die Festgirlande übersehen, die den Imbissladen schmückte. So klingelten die Glöckchen, als sein Kopf sich in den goldenen Bällchen und silbernen Sternen über ihm verhedderte. »Ist ja gut«, milderte der andere seinen Ton angesichts der ganzen zerknitterten Geldscheine, die aus Ignatios’ Taschen kamen und glattgestrichen wurden: »Wenn du magst, machen wir ein Spielchen und du zahlst später … Ich erwarte noch ein paar Leute, die kommen sicher gleich. Wegen des besonderen Tages.«
Das Kafenion, in dem Ignatios Halt gemacht hatte, bis der Bus kam und ihn in den entlegenen Vorort und seine Junggesellenbude brächte, bot alles, was man brauchte. Es befand sich genau gegenüber der Endhaltestelle und diente als Wartesaal für die Fahrgäste, eine Art Anlegestelle, denn die Verbindungen waren selten pünktlich. Häufig aber auch als Anlass und Zuflucht für ein Innehalten und eine kleine Träumerei für jemanden, der den Bus verpasst hatte und noch ein paar weitere durchfahren ließ, während er auf den nächsten wartete. So konnte man gewöhnlich beobachten, wie verschiedene Passagiere, als müssten sie einem unsichtbaren Kontrolleur Rede und Antwort stehen, unter dem Deckmantel ihrer Eigenschaft als Reisende dort die Zeit zubrachten, manchmal, weil es draußen regnete, manchmal, weil draußen die Sonne schien, manchmal, weil es draußen kalt und manchmal, weil es glutheiß war, immer in der Erwartung des nächsten Busses, der nicht kommen wollte. Da der Wirt die Tricks kannte, die sich die Leute ausdachten, um die Zeit in die Länge zu ziehen und einen Aufschub vom Unvermeidlichen zu erhalten, bot er jede Art Ablenkungen. Für durstige Kehlen und ausgehungerte Mägen. Aber auch etwas für die Seele. Heute zum Beispiel lag eine grüne Decke zum Glücksspiel bereit, um das Glück aller zu beherbergen.
Ignatios hatte am Nachmittag noch kurz vor Dienstschluss einen Wasserhahn und ein Ventil am Warmwasserspeicher auswechseln müssen. »Mach dich gleich auf die Socken«, hatte sein Chef gesagt und so getan, als würde er ihn bedauern, doch im Grund war er froh, dass sein Gehilfe nicht schon weg war. Und er hatte noch hinzugefügt: »Diese steinreiche Alte kann dich ja ein bisschen verwöhnen, an so einem Festtag.«
Er war noch nie in dieser Wohnung gewesen, und so wunderte er sich, als er sie unverschlossen vorfand. In der halb offenstehenden Tür empfing ihn ein kleiner Hund, der sich die Lunge aus dem Hals kläffte, als ob ihm eine Bande von Einbrechern gegenüberstünde, und der ihm zwischen die Beine kam, als er die Türschwelle unentschlossen nicht zu überschreiten wagte. »Ist da jemand?«, fragte er in Richtung des schwach erleuchteten Wohnungsinneren und musterte die üppige Einrichtung des Wohnzimmers. Zugleich fragte er sich, ob er diesem kraushaarigen Knäuel, das ihm nicht von den Füßen weichen wollte, nicht einen Tritt geben durfte.
Schwere, auf Hochglanz polierte Möbel und ein geschmückter Tannenbaum, der von Paketen mit roten Bändern und Platten mit Weihnachtsplätzchen eingerahmt war. Die zentrale Lichtquelle war ein überdimensionaler Fernsehbildschirm, von dem ihn ein riesiger Kopf ohne Ton ansprach. Ein Kronleuchter und eine moderne Stehlampe warfen ihr schwaches Licht auf ein paar Bilder mit Schiffen und Städteansichten.
»He«, rief Ignatios jetzt ungeduldiger und machte endlich einen Schritt nach vorn, und darauf war eine schwache, aber gebieterische Stimme zu hören: »Mensch, du lässt uns hier erfrieren! Komm endlich rein«, und bevor er reagieren konnte, fiel hinter ihm die Tür automatisch ins Schloss. Die Stimme kam aus einem Ohrensessel mit Samtdeckchen, der dem Fernseher zugewandt war, so, dass er nicht erkennen konnte, wer mit ihm gesprochen hatte. Als er näherkam, stand er vor einer betagten Frau, die so mager war wie ein Gespensterskelett und mit ihren dünnen Fingern an der Fernbedienung spielte. Ignatios fielen besonders die geschminkten Augen mit dem müden Blick auf und der ganze Goldschmuck am faltigen Hals, an Armen und Händen. Ihn ergriff eine Welle von Abscheu, die sich in Mitleid verwandelte. Dann fragte er nach dem Bad. »Der Wasserhahn in der Küche ist kaputt«, sagte sie und machte eine unbestimmte Geste ins Innere der Wohnung, und dann: »Nimm dir erst ein Plätzchen, ich muss dir ja etwas anbieten an diesem Feiertag.« Sie zeigte auf das Buffet, doch er hatte es eilig und sagte: »Zuerst die Arbeit.«
Der Wasserhahn musste nur etwas angezogen werden, nichts von Bedeutung. Er sagte es ihr. Sie hatte ihn in die Küche begleitet, und Ignatios dachte: »Die Oma spioniert mir nach«, dann sagte sie: »Macht nichts, für deine Mühe wirst du ja sowieso bezahlt«, und sie fügte hinzu: »Bist du Ausländer?«
Die Frage kam für Ignatios wie ein Kurzschluss, und er wiederholte sie wie ein Echo: »Ausländer?« »Ja, Ausländer«, beharrte sie, »Albaner, Georgier oder was weiß ich?« Ignatios fragte sich, wo denn der Mensch geblieben war, der sich um diese Frau kümmerte. »Du hast eine seltsame Aussprache, deshalb frage ich. Also?« »Was also, gute Frau«, dachte Ignatios und sagte: »Ich bin aus Agrinio.«
Er wechselte das Ventil, und der Boiler funktionierte wieder einwandfrei. Als er ihr sagte, dass alles in Ordnung sei, klagte sie: »Worum soll ich mich zuerst kümmern, so ganz allein? Gott sei Dank bin ich noch in der Lage, die Frau zu bezahlen, die sich um mich kümmert.« Sie verschwand wieder in ihrem Sessel und hielt ihm ihr kleines Glas hin. »Schenk mir bitte einen Tropfen ein. Und nimm dir, was du magst.«
Als er ihr gegenüber Platz nahm, musterte sie ihn von oben bis unten und überraschte ihn weiter. Sie sagte freundlich: »Gut, wenn du nicht sagen willst, wo du herkommst, können wir ja ein kleines Spielchen machen … Vielleicht ist dir deine Herkunft peinlich?« Ignatios hatte eben noch versucht, den Ärger in den Griff zu kriegen, indem er so tat, als hätte er nichts gehört, sein Beruf brachte es außerdem mit sich, dass man es häufig mit völlig bekloppten Leuten zu tun hatte, aber diese Oma hatte etwas Anderes als Mitleid und Ärger in ihm erregt: Eine Traurigkeit, gepaart mit einer gewissen Lustigkeit angesichts ihrer Mätzchen, ihn bei sich zu behalten. Er sah, dass sie sich einiges ausdachte, um ihn bei sich zu halten, und er musste grinsen, denn er fühlte sich wie ein Linienbus, der extra langsam fuhr, um sich zu verspäten. Er fühlte sich wohl dabei und sagte: »Gut.«
Sie nahmen an dem niedrigen Tisch Platz wie kleine Kinder vor einem neuen Spielzeug, und die alte Frau verlor von der ersten Minute an. Sie spielte unglaublich sorglos und mit einem völlig grundlosen Risiko. Sie spielte, als teilte sie die Karten an die Luft aus, als würde sie keinem Gegner gegenüber sitzen. Und sie tat es nicht etwa, weil sie verlieren wollte, obwohl sich vom ersten Augenblick an das Ergebnis ihrer Unbedachtsamkeit in Gestalt eines wachsenden Geldstapels vor Ignatios abzeichnete. Vielleicht geschah es je nach den Erfordernissen der Erzählung, denn sobald er sich entschlossen hatte, das Drama seines Lebens zu erzählen, wurde der »Verlust« der Karten und ihre Geldeinbuße zu einer Art Automatismus, als ob man die Zeit mit einem Köder bestechen und anhalten und der Erzähler ein ewig Erzählender bleiben könnte. Und doch war etwas Sonderbares geschehen, was das Leben, obwohl es nur einen einzigen Augenblick dauert, eine ganze Ewigkeit lang überfluten kann. Als ob sie ein Märchen hören würde, das aus einem Meeresbrunnen heraufstieg, belebten sich die Augen der Frau und zeigten die Bereitschaft, in Ignatios’ Worte einzutauchen und darin zu ertrinken, während Strahlen mit Tropfen orientalischer Edelsteine das Zimmer überschwemmten.
Zwischen ihnen hatte sich ein Korridor aus Worten gebildet, und so widerwillig Ignatios noch kurz vorher den Mund aufgemacht hatte, so überrascht verfolgte er nun selbst, wie seine Sätze wie auf einem Förderband in einem ständigen Fluss dahinglitten und den verfallenen Körper verjüngten. Er erzählte Geschehnisse, die er nicht nur nicht erlebt hatte, sondern die wahrscheinlich auch kein anderer sich zu erleben vorstellen konnte, und so ließ er die Erzählung sich aus sich selbst heraus speisen, wie das Essen den Appetit anregt. Er erinnerte sich an seine Mutter und die ans Bett gefesselte Mutter seiner Mutter, wie sie sehnsüchtig auf ihn warteten, damit er ihnen die Neuigkeiten brächte und ihnen alles erzählte, was da draußen geschah und was sie selbst nicht wissen konnten. Und er hatte sich immer schon gefragt, wie es sein konnte, dass sie sich all die täglichen Ereignisse, geschmückt mit überflüssigem Wortgeklingel, mit größter Aufmerksamkeit und Freude anhörten, und ihn nie aufhören lassen wollten, was sich in einem aufmunternden Satz und einem gut gebügelten Hemd ausdrückte, womit sie ihr ärmliches Zimmer zum Leuchten brachten. So wie jetzt das Zimmer und das Gesicht der Frau aufleuchteten, während sie der Geschichte lauschte, seiner unbedeutenden privaten Geschichte mit den Girlanden und ausgedachten Worten wie die goldenen Kugeln am Baum, die sie so gerne hören wollte. Und in diesem einzigartigen und immer einmaligen Augenblick spürte die Frau, dass all das Erzählte, das vor ihr ausgebreitet wurde, so lebendig war, dass sie ihre Hand darauf hätte legen und darüber streicheln können, während sie ständig Karten abgeben musste. Und ständig verlor.
Aus dem Griechischen übersetzt von Hans Eideneier