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#Netzlese

15.11.2023

Titelseite der Zeitschrift ΣΑΓΕΣ-Themen

Titelseite der Zeitschrift ΣΑΓΕΣ-Themen
Bildquelle: ΣΑΓΕΣ

Anlässlich der letzten Europawahlen, die am 9. Juni 2024 stattfanden, hat die Zeitschrift des Alumni-Vereins der Deutschen Schule Thessaloniki ein Dossier zum Thema Europa durch die Augen der Absolvent*innen veröffentlicht. Hier der Link. Aus diesem Dossier veröffentlichen wir das Interview mit Miltos Pechlivanos in der deutschen Übersetzung von Marco Hillemann.

Αναδημοσιεύουμε εδώ σε γερμανική μετάφραση τη συνέντευξη που έδωσε ο Μίλτος Πεχλιβάνος στο περιοδικό του Συλλόγου Αποφοίτων της Γερμανικής Σχολής Θεσσαλονίκης (ΣΑΓΕΣ-Themen, τχ. 23), με αφορμή το αφιέρωμα Ευρώπη! Μέσα από τα μάτια των αποφοίτων.


Mutige politische Initiativen und beschleunigte Integration

Welche Rolle hat die Idee eines vereinten Europas für Ihre persönlichen und beruflichen Entscheidungen gespielt?

Der gemeinsame europäische Raum der persönlichen und beruflichen Mobilität und später der offenen Grenzen bildete den zunehmend selbstverständlichen Hintergrund für alle meine Entscheidungen seit dem Abschluss der Deutschen Schule Thessaloniki. Man reiste nicht mehr von Griechenland aus in ein fernes Europa, wie es aus den Fotos und den Super-8-Filmen von Familienreisen nach Europa oder den Geschichten von Cousins und Cousinen über ihre Interrail-Erfahrungen in den 1970er Jahren hervorging. Allmählich wurde ich mir bewusst, dass ich mich bereits direkt in Europa befand, als die erste Phase des Erasmus-Studentenaustauschprogramms eingeführt wurde, als sich die Möglichkeit eines Postgraduiertenstudiums im Grenzort Konstanz ergab und dann eine Universitätskarriere begann, die von der transeuropäischen Zusammenarbeit mit Kolleg:innen und EU-Forschungsprogrammen geprägt war, ganz zu schweigen von der beruflichen Wahl der Freien Universität Berlin und der dortigen Aufgabe, die neugriechischen Studien in den europäischen Rahmen, in der kulturellen Mobilität der transnationalen Verflechtungen zu verankern. Und allmählich wurde ich mir auch bewusst, wie fragil dieser Integrationsprozess ist, sei es durch die pandemiebedingte Aufhebung der Bewegungsfreiheit, sei es durch den Brexit oder die drohende Ausgrenzung des europäischen Südens während der Finanzkrise, sei es durch die eurozentrische Fremdenfeindlichkeit der unüberwindbaren Außengrenzen und die Entstehung einer innereuropäischen Spaltung aufgrund nationalistischer, neofaschistischer und verschwörungstheoretischer Phantasien. Erhalten bleibt aber immerhin der Trost des Trailers in den Kinos des Europa Cinemas Netzwerks, in dem die Namen von 750 europäischen Städten angezeigt werden, darunter auch der von Thessaloniki.

Europa erlebt heute wie der Rest der Welt eine Vielzahl von Krisen. Glauben Sie, dass die EU angemessen auf die heutigen Herausforderungen reagiert?

Es bedürfte weit mehr als der hier zur Verfügung stehenden 700 Wörter für einen historischen Rückblick, aus dem hervorginge, warum die Antwort auf Ihre Frage heute nicht mehr optimistisch bzw. positiv ausfallen kann. Auf jeden Fall hat es die EU, so gerecht müssen wir sein, als Prozess von Integrationsinitiativen geschafft, im Zuge ihrer systematischen Erweiterung im 21. Jahrhundert den Übergang von der bipolaren Welt des Kalten Krieges in die Realität der Globalisierung zu bewerkstelligen und dabei auf dem Wege der Diplomatie, unter Achtung internationaler Regeln und der Grundrechtecharta ihres geistigen und moralischen Erbes Frieden und Stabilität zu gewährleisten. Und sie hat es geschafft, zwischen der Pandemie und der Energiekrise gemeinsame Aktionen zum Schutz der europäischen Bürger:innen zu entwickeln, das Ansehen des öffentlichen Sektors zu stärken und die Tabus der Haushaltsregeln, der gemeinsamen europäischen Schulden und der "Schuldenbremse" für die Haushalte der einzelnen Mitgliedstaaten zu durchbrechen. Doch am Wendepunkt unserer Zeit, angesichts der Gefahr einer multipolaren De-Globalisierung und der Umweltkrise, der Rückkehr des Krieges auf europäischen Boden, der Verschärfung der sozialen Ungleichheiten und der multiplen Infragestellung der aufklärerischen Werte der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität sowie letztlich der modernen Demokratie und des Rechtsstaates, sind jetzt dringend Initiativen des politischen Mutes und der beschleunigten Integration erforderlich. Während ich antworte, muss ich unvermittelt an die Rede des französischen Staatspräsidenten an der Sorbonne denken, der in Anlehnung an Paul Valérys Wort von der Sterblichkeit der Zivilisationen am Ende des Ersten Weltkriegs daran gemahnte, dass auch Europa sterblich sei.

Glauben Sie, dass die EU angesichts der entscheidenden geopolitischen Herausforderungen der Zukunft in der Lage sein wird, eine wichtige Rolle zu spielen? Wie können Ihrer Meinung nach die europäischen Bürger dazu beitragen, die Rolle der EU zu stärken?

Angesichts der Erfolge der Rechtsextremen, z.B. in Italien und den Niederlanden, aber auch der Krise des deutschen Entwicklungsmodells sowie der technologischen Defizite auf dem Weg zu einer nachhaltigen, gleichermaßen ökologischen und sozialen Entwicklung in Europa wird es der EU entweder gelingen, eine bedeutende Rolle bei den Herausforderungen der unmittelbaren Zukunft zu spielen, oder sie wird den Voraussetzungen der Niederlage zum Opfer fallen, die sie selbst unbewusst in den letzten Jahrzehnten schuf, indem sie die europäischen Wähler in die trüben Gewässer der postpolitischen Ängste und ihre Volkswirtschaften in außereuropäische Abhängigkeiten trieb. Die europäischen Bürger sollten den Stereotypen widerstehen, die Brüssel lediglich als ein Zentrum der Bürokratie und der Korruption der Eliten hinstellen, und nach einer Identität als Mitglieder eines europäischen Demos streben, der heute dazu gezwungen ist, seinen Platz in einer Welt, in der die internationalen Regeln nicht mehr so selbstverständlich gelten wie früher, ständig neu auszuhandeln. Andernfalls sollten sie, bevor sie an den Wahlurnen dem Euroskeptizismus folgen, zumindest einen Blick auf Macrons Lobpreisung des europäischen humanistischen Modells des Wissens, der Kultur und der Wissenschaft werfen (https://geopolitique.eu/en/2024/04/26/macron-europe-it-can-die-a-new-paradigm-at-the-sorbonne/), auch wenn ich mir gewünscht hätte, dort wenigstens ein paar nicht-eurozentrische, selbstkritische Hinweise auf die Vergangenheit und Gegenwart der europäischen kolonialen Ausbeutung des Planeten gelesen zu haben.

Was wünschen Sie sich für Griechenland innerhalb der EU?

Dass die europäischen Bürger:innen die Gefahr abwenden, die Rechtsextremen zu Schrittmachern der europäischen Entwicklungen zu machen, und dass sich die EU nicht in einen rückgratlosen Verbund von Staaten verwandelt, die in einem Europa der Ungleichheiten um nationale Interessen konkurrieren. Dass starke Initiativen für eine gemeinsame Verteidigungs-, Technologie-, Umwelt- und Kulturpolitik ergriffen werden, innerhalb derer Griechenland strategisch seine eigene Zukunft in einem Europa der territorialen Sicherheit, der pädagogischen Mehrsprachigkeit und des sozialen Respekts für die Diversität finden kann und damit aufhört, sich als "bruderlose Nation" zu inszenieren.

Aus dem Griechischen übersetzt von Marco Hillemann