#Editorial
17.07.2020
Liebe Freund*innen des CeMoG, bevor die Sommerferien auch für uns beginnen, möchten wir uns von Ihnen mit einem sommerlichen Newsletter mit neuen Texten und Neuigkeiten bis zum Herbst verabschieden.
Wie so viele, konnten auch wir unsere Büros in der „Rostlaube“ der Freien Universität lange nicht betreten. So sammelte sich einiges an Post in altmodischer Papierform an. Im Papierstapel fand sich auch der Brief eines Literaturübersetzers im hohen Staatsdienst an einen deutschen Dichter mit dem Beinamen »Scardanelli«, der diverse griechische Literaten inspirierte – und nicht irgendwen, wenn man etwa Odysseas Elytis, Jorgos Seferis oder Stratis Tsirkas zu ihnen zählt. Nun, weil dieser Dichter, einer der berühmtesten Söhne Tübingens, vor 250 Jahren geboren wurde und der Verfasser des Briefes Griechenland in Deutschland vertritt, haben wir uns für die Veröffentlichung dieses Offenen Briefes in unserer aktuellen Newsletter-Ausgabe entschieden, in seiner Originalform auf Briefpapier und in deutscher Übersetzung durch Anna Lazaridou.
Φέτος συμπληρώνονται 250 χρόνια από τη γέννηση του Φρίντριχ Χαίλντερλιν, και με αυτήν την αφορμή δημοσιεύουμε την Ανοιχτή Επιστολή του Θεόδωρου Δασκαρόλη, Πρέσβη της Ελλάδας στη Γερμανία, στον γερμανό ποιητή.
Offener Brief: S.E. Theodoros Daskarolis, Botschafter der Hellenischen Republik in der BRD, an Johann Christian Friedrich Hölderlin
6. Juni 2020
Werten Herrn
Johann Christian Friedrich Hölderlin
über Herrn Ernst Zimmer
Im Turm, Neckarufer
Tübingen
Sehr geehrter Herr Hölderlin,
es ist lange her, dass wir miteinander gesprochen haben – um genau zu sein, dass Sie, durch Ihr Werk, zu mir gesprochen haben. Daher bin ich Herrn Professor Pechlivanos dankbar für die Anregung, Ihnen den vorliegenden Brief zu schreiben.
Ich lernte Sie kennen, als ich 24 Jahre alt war. Wenn ich mich recht erinnere, ist es das Jahr 1942, in Jerusalem, in einer lautstarken Pension voller Flüchtlinge, die von einer exilierten Deutschen geleitet wird. Ihre Nazi-Landleute haben Europa unterjocht und stehen kurz davor, Ägypten einzunehmen. Die Alliierten sind bestrebt, ihre eigenen Schäden einzudämmen, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, gegeneinander zu intrigieren. Und dort, inmitten dieser „Stadt der Flüchtlinge“, wie Ihr Künstlerkollege und mein Arbeitskollege Jorgos Seferis (Georgios Seferiadis) diesen labyrinthischen Klub der Exilanten nennt, treffen ein griechischer Antifaschismus-Kämpfer und die wunderschöne Gattin eines österreichischen Diplomaten aufeinander. Ihre Liebe ist blitzartig und auf traumatische Weise unerfüllt, ihr Liebesgeflüster durchdrungen von und mit Ihren Versen. Den hoffnungsvoll Liebenden steht ein englischer Hellenist bei, homosexuell, nicht wirklich überraschend Mitarbeiter des Intelligence Service und, natürlich, Alkoholiker, der gerne „Brot und Wein“ zu „Brot und Ouzo“ parodiert. Ein Jahr später, nachdem die freie Welt in El Alamein und Stalingrad wieder zu Atem gekommen war, schreibt die österreichische Schönheit einen klärenden und eventuell nicht überbrachten Brief an ihren griechischen Beinahe-Liebhaber, am 7. Juni 1943, und erinnert ihn daran, dass genau dies der Tag des 100. Jahrestages Ihres sanften, agoniefreien Todes vom 7. Juni 1843 ist. Der verblüffende Satz in dem Schreiben lautet „Denn alles ist gut (Patmos)“ – damit endet der erste Band der Trilogie „Unregierbare Städte“ von Stratis Tsirkas.
Ιch fand Sie kurz danach wieder, als ich Seferis las, der Sie – unter uns – nicht besonders schätzte. Er sorgte, allerdings, bei einem seiner Gedichte dafür, Sie in sein Frontispiz zu setzen, mit einem Auszug aus Ihrem „Brot und Wein“: „Indessen dünket mir öfters, Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu seyn, So zu harren. Und was zu thun indeß und zu sagen, Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit?“
Das Gedicht von Seferis habe ich vergessen. Ihren Vers – inzwischen auch im Original gelesen – erinnere ich immer. Da ich nie meinen eigenen Kräften in der Dichtung getraut habe, steht es mir nicht zu, mich völlig mit ihm zu identifizieren. Ich begnüge mich damit, die Dichtung zu bewundern, ihrem Zauber zu vertrauen. So wurde ich von Elytis verzaubert und dort, Herr Hölderlin, in seinem bescheidenen Atelier, traf ich Sie 1987 zum dritten Mal wieder. Direkt neben dem Portrait von Dionysios Solomos, Ihr Portrait auf dem Schreibtisch des griechischen Dichters.
Der wechselseitige Zusammenhang zwischen Ihnen beiden reizte mich, und so beschloss ich bei meiner Ankunft an meinem ersten Auslandsposten, 1988, als Sekretär der Griechischen Botschaft in Ostberlin, mich gezielt mit Ihnen zu beschäftigen. Es war eine bodenlose Provokation, müssen Sie zugeben, gerade dort, im anderen, sogenannten „volkseigenen“ Deutschland, das zum zweiten Mal den Totalitarismus durchlebte, zu versuchen, mit Ihnen zu kommunizieren. Mit der Gewissheit, von der Stasi überwacht zu werden, hielt ich im März 1989, auf Einladung einer evangelischen Gemeinde in Magdeburg, einen Vortrag über Sie beide. Ich schloss den Vortrag damit ab, dass ich betonte, dass wir Ihnen und Elytis den Enthusiasmus schulden, den Sie uns so großzügig schenkten und den wir so nötig brauchen. Ich erinnere mich noch, dass unser Gastgeber, der ostdeutsche Pastor, den Vortrag abschließend kommentierte: „Glücklicherweise haben wir Deutsche auch etwas anderes geschaffen als die Wehrmacht.“ Ich muss Ihnen noch gestehen, dass dieser Vortrag einen gewissen Eindruck in den von der Gesellschaft der DDR zwangsweise abgeschotteten diplomatischen Kreisen des damaligen Ostberlins gemacht hat. Einige deutsche Kollegen nennen mich seitdem, etwas selbstgefällig glaube ich, den griechischen Diplomaten, dessen Lieblingsdichter ein Deutscher ist. Die Bezeichnung ist nicht absolut richtig, dennoch halte ich es nicht für zweckdienlich, ihnen zu widersprechen.
In jener Zeit pflegte ich mit meiner Frau, frisch verheiratet und neu angekommen, die langen, sonnenbeschienenen Frühlingsnachmittage im Café des Grand Hotels auf dem Bürgersteig der damals autofreien Friedrichstraße zu verbringen. Dort hat meine Frau ein Portrait von Ihnen gezeichnet: ein junger Mann ohne Halsbinde – als Zeichen der seiner Nichtkonformität – mit langen Haaren, klarem, hellem Blick, bescheiden und gleichzeitig stolz. „Apollo-gleich“ nannten Ihre Kommilitonen Sie. Später, wenn es Abend wurde, schlenderten wir die Friedrichstraße entlang, Ihre Straße, die Ihren Namen trägt, Richtung Check-Point Charlie. Direkt neben der Mauer, Ecke Zimmerstraße, gegenüber vom Wachhaus der Alliierten, gab es damals ein Café, das junge Spontis führten, das Café Adler. Dort saßen wir an den Sommerabenden bis spät in die Nacht, die amerikanischen Soldaten direkt vor uns, kaum drei Meter weiter links die ostdeutschen Wachposten, mit ihren fahlgrünen Uniformen und ihren hohen Stiefeln, die Mauer bewachend. Dort, genau an der Schnittstelle der zwei Welten, inmitten dieser seltsamen Stille und Regungslosigkeit, gedachten wir Ihrer und fragten uns, was uns das kommende 21. Jahrhundert bringen würde. „Wo aber Gefahr ist, dort wächst das Rettende auch“, hatten Sie uns gesagt. An den Winterabenden wechselte dieselbe Landschaft jäh: Es herrschte immer noch Stille, jedoch eine erschreckend bedrückende. Der Blick fiel grau auf die Mauer, die Verbindung war unvermeidlich: „Die Mauern stehn sprachlos und kalt, im Winde klirren die Fahnen …“ („Hälfte des Lebens“). Wobei das Wort „Fahnen“ im Griechischen nicht als „Wetterfahnen“ übersetzt wurde, sondern als „Flaggen“, passender zum gegebenen Umfeld, geradezu mit unverhohlenem Bezug auf die ostdeutschen Flaggen, die, vom Wind gepeitscht, neben der Mauer auf ihren Stangen quietschten. Und was das Straßenschild anbelangte, „Zimmerstraße“, das verwies automatisch auf die Zimmers, die barmherzige Familie, die Sie bei sich aufgenommen hat. Einige Monate später brach die Mauer wie ein Kartenhaus zusammen, mitsamt der Wachhäuser, der Toten, der Fahnen und ihrer Gespenster. Die Menschen strömten voller Enthusiasmus, ahnungslos, ins Ungewisse.
Gegenwärtig, mein lieber Herr Hölderlin – oder Herr Scardanelli, wenn Ihnen das lieber ist, – finden wir uns erneut eingesperrt wieder. Die Unsicherheiten ersticken uns. Wir fürchten unseren Nächsten, nicht weil er uns, wie damals in der DDR anschwärzen, sondern weil er uns infizieren könnte. Wir zweifeln, zögern der Zukunft zu trauen, und abends schauen wir durch unsere Fenster auf die verwaisten Städte und warten, wie die Helden von Boris Pasternak in „Doktor Schiwago“, „auf eine neue Kraft“. Ich schweife ab, verzeihen Sie mir. Doch Sie gaben mir das Recht dazu. Sie sind im Übrigen – und ich kenne keinen vor Ihnen in der westlichen Welt –, der Dichter der großen Überschreitungen, selbst als es nötig wurde, mit dem Stab über das Chaos zu springen. Axion estí - Ein würdiger Preis.
Ich sehe meine Frau vier Mal das Kreuz über das Brot schlagen, das sie, ihre Hände in Öl und Wein tunkend, selbst geknetet hat. Der Teig braucht die Berührung der menschlichen Hand, mit technischer Unterstützung, z.B. einen Mixer, verdirbt er, löst sich auf, die magische Bindung des Brotes geht verloren. So, stelle ich mir vor, ist es auch mit der Dichtung. Auch sie entsteht durch die Berührung des Menschen, unserer natürlichen Sinne. Unmöglich, sie der künstlichen Intelligenz anzuvertrauen.
Αber was soll’s. Heutzutage haben wir gelernt, die Welt auf die Bildschirme unserer Rechner und unserer Mobiltelefone zu verkleinern, dennoch bleibt, wie Elytis schreibt, die Art, wie sich zwei Körper berühren, seit mehreren Jahrtausenden die gleiche. Sie erfordert Bemühung, Fantasie, Originalität, Selbstvertrauen und Liebe, wie das Kneten von Brot oder das Sammeln von Worten und deren richtige Placierung, um einen reinen Sinn festzuhalten, mehr noch, um einen originellen Vers zu formen, der Magie und Vertrauen erweckt.
Ich habe sagen gehört, dass die Soldaten der Wehrmacht, selbst die, die in den schrecklichen Jahren 1941–1945 in Griechenland waren, in ihrem Tornister Ihren „Hyperion“ mit sich trugen, worin Sie schreiben: „Ich liebe Griechenland überall; es trägt die Farben meines Herzens“. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was diese jungen Menschen in ihren Herzen trugen, als sie in Griechenland ihre Verbrechen verübten. Manchmal frage ich mich, ob sie, nunmehr erwachsen oder gar alte Männer, sich jemals, wenn sie an die Kriegsuntaten ihrer Jugend dachten, sich daran erinnerten, dass sie damals Hölderlin lasen. Welch ein Unglück, für Sie. Auch Sie wurden Opfer der Nazi-Propaganda, die Sie verzerrt hat, um eigenen Zielen zu dienen.
Allerlei Forscher haben Sie gezählt, analysiert, zerstückelt und mit großer Genauigkeit ihre Funde und Schlussfolgerungen kategorisiert, doch ich fürchte, sie haben uns damit des Privilegs der Unbeholfenheit Ihnen gegenüber beraubt. Mit der Kategorisierung der Antworten verloren wir etwas von der Magie des Rätsels. Unter dem Vorwand Ihrer geistigen Verwirrung haben sich einige beeilt, Sie zu den „poètes maudits“ zu zählen, jenen, die das Leben und sich selbst verfluchen. Welch‘ Irrtum. Sie, der sich so früh der Seite der „heiligen Unschuld“ verschrieben hat. Wir alle haben ein Recht auf das Paradies unserer Kindheit und Sie haben es für uns eingefordert.
Sie wollten sich auf Augenhöhe mit unseren Dichtern austauschen, gingen in unserer Sprache in die Lehre, um der Ihren zu dienen. Und doch, fürchte ich, lesen wir Sie anders, als Ihre Landsleute Sie lesen. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, wenn Griechen und Deutsche sich irgendwann einmal ihre kulturellen Unterschiede eingestehen würden. Vielleicht könnten wir uns so besser verständigen. Bei einem solchen Versuch, bin ich mir sicher, wären Sie hilfreich.
Sie haben sich geweigert, zum Dichterfürsten aufzusteigen, wie etwa jene, die Sie „Hölterlein“ schimpften. Sie zogen es vor, der Prinz vom Neckar zu bleiben und als luftreitender Abaris, als hyperboreischer Reinigungspriester, als Erzpriester des Apollon, ab und an, Delos zu besuchen. In einer so widersprüchlichen Zeit wie der unseren, in der andere Ihrer Zeitgenossen zu Monumenten versteinerten, sind Sie ganz lebendig geblieben. Und einzigartig. „The one remains, the many change and pass”, wie Shelley in seiner “Adonais” schrieb. Ihre Dichtung fließt wie Blut in den Adern.
In Stuttgart eingesperrt, luden Sie uns ein, gemeinsam die Hänge des Parnass zu erklimmen, uns nach so vielen Jahrhunderten Verspätung wieder mit der Gleichsetzung von Christus und Dionysos zu versöhnen, von der großzügigen Hand Gottes wieder Brot und Wein zu schmecken, uns herabzulassen, die edle Herkunft der Früchte der Erde an der großen Tafel zuzulassen.
Wir sind Ihnen zu Dank verpflichtet, Herr Hölderlin, für diese Gabe. Wir sind dankbar für dieses Licht, das in der Nacht strahlt – und hier stimme ich mit Walter Benjamin überein, der in einem Brief 1916 schrieb: „Mitten in der Nacht sind wir … seit Jahren strahlt mir aus dieser Nacht das Licht Hölderlins.“ Wir sind dankbar, weil Sie durch den schrecklichen Hohofen propagandistischer Verzerrung gejagt wurden und dennoch blühend frisch geblieben sind. Und ich persönlich bin dankbar, weil wir zwei, ab und an vielleicht, etwas von dem Gefühl des Menschen geteilt haben, der irgendwo in Mitteleuropa allein die Nacht durchwacht, jene vielen Nächte der dürftigen Zeit, in denen Sie darauf beharrten, ein Dichter zu sein statt zu schlafen.
Das Griechenland, das Sie so tief geliebt, konnten Sie nicht durchwandern. Sie haben es erfühlt, aus der Ferne. Sie tasteten es ab, nicht nur als Eingeweihter seiner antiken Wunder, sondern auch als Beobachter seiner späteren Abenteuer. Selbst als Sie schon von Schatten umhüllt waren, als man Ihnen 1829 die Nachricht überbrachte, dass Griechenland wieder frei sei, hellte sich Ihr gequälter Blick auf. Einige sagen, Sie hätten unser Land idealisiert. Ich glaube, wir müssen eine wesentliche Unterscheidung zwischen Idealisierung und Enthusiasmus machen. Auch wenn Sie es nie explizit geäußert haben, so haben Sie, glaube ich, genaue Kenntnis der etymologischen Wurzel von Enthusiasmus, er stammt – lassen Sie uns nicht vor dem Wort erschrecken – von „éntheos“= vom Gott durchflutet. Axion estí – Ein würdiger Preis.
Im nächsten Jahr feiern wir den 200. Jahrestag des Bestehens des neueren griechischen Staates. Auch Sie werden wir einladen an den Feierlichkeiten teilzunehmen. In diesen zweihundert Jahren hat Griechenland Wunder und Dramen erlebt, Gegner haben auch da nicht gefehlt, vermeintliche „Freunde“ erwiesen sich als Feinde und andere Freunde wurden enttäuscht oder hatten nicht die Geduld, Entwicklungen nachzuvollziehen. Jedenfalls ist in unserem Land – ich weiß nicht, welche Meinung Sie dazu hätten – noch keine unserer alten Traditionen wirklich erloschen. Jeden Karfreitag fällt es uns schwer darüber zu entscheiden, ob der Gott, den wir da zu Grabe tragen, Christus ist oder Adonis.
Ihr geliebtes Griechenland hat wieder Schritt gefasst, obwohl es oft gestolpert und sich manches Mal selbst ein Bein gestellt hat. Zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat ein weiterer Eremit, Schritt für Schritt unser Land, wie Seferis so treffend irgendwo schreibt, „buchstabiert“: der Schriftsteller Jacques Lacarrière. Bei der äußerst realistischen Niederschrift der greifbaren Eindrücke seiner Griechenland-Wanderungen im Buch „Der griechische Sommer (L‘été grec)“, gelangt er zu einer bemerkenswerten Feststellung: „Immer schon haben wir viel von Griechenland gefordert und immer fand es den Weg, unseren Erwartungen zu entsprechen.“
Die Nachmittage in Attika und in Brandenburg sind wieder hell geworden. Der erzwungene Einschluss der Menschen hat der „seligen Natur“ Gelegenheit gegeben, zu genesen, und sie hat sie wahrgenommen. Der Himmel wurde schnell wieder blau und die Wasser sauber. Die Tiere des Waldes stiegen in die Städte hinab. Die Natur ist weise und gerecht, gar gnädig gegenüber den Verbrechen und Missgeschicken der Menschen. Und ein weiteres Mal haben Sie Recht behalten: „Wo aber Gefahr ist, dort wächst das Rettende auch.“
6. Juni, heute, an dem ich Ihnen schreibe, Vortag des Jahrestages Ihres sanften Todes 1843. 6. Juni, ein großer Tag, der „größte Tag“: D-Day, 6. Juni 1944, der Tag der siegbringenden Landung der Alliierten in der Normandie, der Tag des Anfangs vom Ende des Nazismus.
6. Juni 1990, vor genau dreißig Jahren, das erste Konzert der Rolling Stones nach dem Mauerfall im Berliner Olympia-Stadion. Die Grenzen in Europa sind offen und hunderte junger Frauen und Männer aus den östlichen Ländern strömen mit ihren Landesfahnen in die Arena des Olympia-Stadions, um sie von Nahem sehen zu können, die Rolling Stones, in voller (voller?) Reife, dieselben, die noch vor einigen Monaten, hinter dem Eisernen Vorhang gefangen, sie nur aus der Ferne hören konnten, jahrelang, heimlich, im Radio. Ich hatte, trotz seines anfänglichen Zögerns, einen englischen Kollegen überredet, das Konzert zusammen zu besuchen. Wir saßen beisammen auf der Tribüne, tranken Bier und sahen die Menge wellenförmig zur mittig stehenden Bühne hochschwappen. Ich versuchte, mit dem Fernglas meine Frau zu orten, die in die Arena herabgestiegen war, mitten unter die jungen Osteuropäer. Und als beim Höhepunkt Mick Jagger, Apollon imitierend, einen Speer in das gigantische Abbild eines Pythons seitlich an der Bühne stach, heulte die Menge auf, trunken vor Enthusiasmus, johlte dionysiert tanzend und ihre Flaggen schwingend. Ich glaube, das würden Sie gelten lassen, mein lieber Herr Hölderlin, mein guter Scardanelli. Denn alles ist gut.
E̶r̶g̶e̶b̶e̶n̶d̶s̶t̶ Ganz der Ihre,
Theodoros Daskarolis
Theodoros Daskarolis, Offener Brief an Friedrich Hölderlin, Berlin, Edition Romiosini, 2020.
Übersetzung aus dem Griechischen: Anna Lazaridou