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05.10.2022

Falten von Damianos Zarifis

Falten von Damianos Zarifis
Bildquelle: Vouvoula Skoura/Edition Romiosini

Die Theaterwissenschaftlerin, -kritikerin und Übersetzerin Eleni Varopoulou ist eine Referenz in der Theater- und Kulturszene in Griechenland und in Deutschland. Umso mehr freuen wir uns, dass sie für uns eine Auswahl aus neuen und veröffentlichten Texten angeboten hat, die wir in der Übersetzung von Natascha Siouzouli unter dem Titel Porträts und Landschaften des neugriechischen Theaters publiziert haben. Das Buch ist ihrem Ehemann, dem Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann gewidmet, der im vergangenen Juli in Athen starb.
Aus der Sammlung bieten wir Ihnen einen Text über die Falte im Theater an.

H Edtion Romiosini δημοσίευσε συλλογή κειμένων της θεατρολόγου, κριτικού και μεταφράστριας Ελένης Βαροπούλου. Εδώ παρουσιάζουμε το κείμενό της «Η αίγλη του κοστουμιού» σε μετάφραση της Νατάσας Σιουζουλή.

Faltenkunde

Beim Anblick eines Kostüms von Mariano Fortuny, der für das um die Körper gewickelte, enge Plissee berühmt war, hatte Marcel Proust den Eindruck, dass darauf der bezaubernde Schatten eines invisiblen Venedigs wanderte. Ich würde im selben Sinne behaupten, dass in den Kostümen des Kostümbildners Antonis Fokas durch seine harmonischen Falten und die feinen Farbkombinationen der verlorene Glanz der Aufführungen des griechischen Nationaltheaters wieder erscheint. Mit den Kostümen von Antonis Fokas beginnt für das Nationaltheater 1932 ein kostümbildnerisches Epos, das bis heute viele Bühnen- und KostümbildnerInnen und hunderte von Kostümen umfasst, die sich wie potenzielle lebende Wesen im riesigen Fundus des Theaters drängen und darauf warten, »wiederbelebt« zu werden. Das Erste, was ich in diesem Raum wahrnahm, war die Quintessenz der theatralischen Erinnerung, die diese spezifischen Belege aufleben lässt, so dass mir Bilder der AkteurInnen in den Sinn kamen, die diese Kostüme bei den verschiedenen Aufführungen der dramatischen Texte trugen. Direkt danach erkannte ich, auf welche Weise die Falten der Kostüme über das Dickicht des Fundus herrschten und wie sie kraft einer langanhaltenden Faltenkunde über die Aufführungen antiker Dramen insgesamt Bericht erstatteten. Die Faltenlandschaft, durch die ich wanderte, überzeugte mich von der Kraft und Geltung der antik anmutenden Kostüme, die sich von einem bestimmten Punkt an von der Person verselbstständigten und eine paradigmatische, wenn nicht sogar symbolische Dimension bekamen. Die Falten deuteten durch ihre plastische Präsenz und die systematische Rückkehr in dieses Kostümarchiv auf eine Historizität und Typisierung hin, die als eine Art Analogie zu den kodifizierten Kostümen traditioneller Theaterformen fungierten. Als Beispiel könnte man hier die fernöstlichen Theaterformen oder die Commedia dell’ arte nennen. Jenseits der Individualität des Schauspielers oder der Schauspielerin, der/die ein Kostüm mit schwereren oder leichteren Falten auf der Bühne trug, jenseits der Regisseurin oder des Regisseurs und ihrer/seiner Inszenierungsstrategie oder des Moments der Aufführung, jenseits auch des Idioms des oder der jeweiligen Bühnenbildners oder Bühnenbildnerin, das die ›eigenen Falten‹ prägte, repräsentieren alle die Falten der Kostüme der Aufführungen antiker Tragödien und Komödien etwas Globales, einen generelleren und breiter anzuerkennenden Sinn: nämlich das Bild, die opsis, in der sich die antiken Texte den Zuschauenden während der Aufführung präsentierten. Diese Herrschaft der Falten resultierte aus einer insistenten szenischen Praxis, die die antikisierenden Kostüme mit den Falten immer wieder und systematisch in antiken Theatern, aber auch in geschlossenen Theaterbauten einsetzte und sie dadurch im kollektiven Bewusstsein als ästhetische Regel etablierte. Was etabliert wurde, war ein machtvolles Vorbild dafür, wie antikes Drama in Freilichttheatern zu zeigen ist. Die Falte wurde zum Emblem, das die neugriechische herrschende Vision und das offizielle Narrativ zum Theaterkosmos der Antike mit Blick auf die Zukunft in sich verdichtete, den Rückruf der Vergangenheit in die Gegenwart feierlich unterstrich und die ästhetische Perzeption und Tradition des Nationaltheaters festigte, wie diese staatliche Institution sie kultivierte, indem sie die antiken Dramatiker in einem Fest der Falten sublimierte.

Antonis Fokas verfolgte die Idee der szenischen Wiederbelebung, indem er die Meinung vertrat, dass das Kostüm jeder tragischen Person durch die sorgfältig gepflegten Falten auf antike Chitone, Statuen und Gefäßen hinweisen sollte. Der Stoff fiel fließend und schwer und folgte den Körperbewegungen, da er handgewebt und auf eigene Art bemalt war. Wie bei den Experimenten von Eva Palmer-Sikelianos, die Ende der 1920er Jahre der Idee der Delphischen Festspiele folgend die Antike, die Natur und Neugriechenland idealisierte, so diktierte die herrschende Tendenz zur Wiederbelebung des antiken Dramas in den 1930er Jahren im Nationaltheater ein Kostüm ohne jegliches archäologische Delirium: rein, gereinigt. Man strebte nach Natürlichkeit, Schlichtheit, dem Maß, dem Respekt gegenüber den Bewegungen und den choreographischen Forderungen des Chors, dem Verweis auf ästhetische Qualitäten inspiriert von Natur und Volksart. Auch in der Zwischenkriegszeit drückten die Falten die neoklassizistische Archäolatrie aus, die die modernen Griechen durch die Träumereien der europäischen Idealisten hinsichtlich einer idealen Antike und die unübertreffliche Schönheit der Körper und Formen geerbt hatten. In der Zwischenkriegszeit artikulierten die Falten allerdings auch eine Forderung nach Hellenikotita (den spezifischen Charakteristika und Qualitäten des Griechentums), die aktueller war als jene, die mit der älteren Idee der Wiedergeburt bzw. Wiedererschaffung kurz vor der Revolution 1821 verbunden war. Durch Formschönheit, Eleganz, Raumsymmetrie, aber auch durch einen mnemotechnischen Prozess, der die gloriose Vergangenheit in die Gegenwart zurückrief, konnten die Falten ein breiteres Publikum bezaubern, das stolz auf sich selbst war. Die Zuschauenden auf die Tribünen der antiken Theater – und weniger diejenigen in den geschlossenen Theaterbauten – entdeckten in der Aufführung ihre griechische Abstammung und deren elementaren Bezüge. Das Bild der blendenden Antike und der Mythos der ungetrübten Kontinuität der griechischen Identität ermöglichten die Begegnung aller Mythologien, auch der radikal nationalistischen, im Inneren der Falten und im Rascheln der Peplen. Der Triumph der Falten in der griechischen Landschaft hat nicht nur zur Etablierung des Ideologems der homogenen Identität beigetragen. Durch die Falten schien die Apolloninische Wahrnehmung der Tragödie das Dionysische zu besiegen und es zu verdrängen bzw. zu verschleiern, im Namen der schönen, dem Harmonischen, dem Rhythmischen, dem Formschönen dienende Falte.

In den zwei ersten Jahrzehnten nach Kriegsende waren Applikationsdesigns bei den Kostümen des Nationaltheaters dominant, wobei der seltene oder besondere Stoff mit den Ornamenten vor allem ein Produkt des Nähens war, das viele Arbeitsstunden verlangte. Der tatsächliche Mangel an besonderen Stoffen, die die KostümbildnerInnen für die Aufführungen antiker Dramen suchten, spielte bei den gewählten Verarbeitungstechniken eine Rolle, um den Mangel zu kompensieren. Die Art und Weise allerdings, mit der die MalerInnen, die als Bühnen- und KostümbildnerInnen bei Aufführungen antiker Dramen im Nationaltheater fungierten, die verschiedenen Materialien und prägnanten dekorativen Motive kombinierten, resultierte vor allem aus dem eigenen Stil. Der Fundus des Theaters ermöglichte mir eine Wanderung durch Motive und applizierte geometrische Formen, durch ein reiches Repertoire von antik anmutenden Designs, die dazu beigetragen hatten, eine träumerische Poetik von Linien und Farbensembles in den Räumen zu generieren. Hinzu kommt, dass die Faltenrhetorik, die Ornamentik der Stoffe, der Dialog zwischen einer eher linearen und einer eher farblichen Plastizität an französische Aufführungen der Zwischenkriegszeit erinnerten, die der Farbenrausch von Djagilews Ballets Russes ganz offenbar nicht unbeeinflusst gelassen hatte.

Viele der Kostüme, die die Maler Nikos Chatzikirgiakos-Gikas, Giannis Moralis, Giorgos Vakalo, Nikos Nikolaou, Savvas Charatsidis, Alekos Fassianos und Vassilis Fotopoulos kreierten, weisen einerseits auf den eigenen Stil hin und belegen andererseits, auf welche Weise die modernen griechischen Künstler die Form des antiken Kostüms in seiner Wiederbelebung in den Orchestern der antiken Theater prägten. Obwohl Antonis Fokas kein Maler war, erwies er sich als Meister der Motive und der Applikationsstickerei, da sehr oft ein einziges Motiv das gesamte Kostüm prägte und dieses emphatisch in den Raum wirken ließ. Derart funktionierten die Zickzack-Striche, die die Falten des Kostüms von Eleni Papadaki als Hekabe in der gleichnamigen Tragödie von Euripides schmückten (1943, Regie: Sokratis Karantinos). Gestickte Motive herrschten auch bei den Kostümen des Chors von Euripides’ Hekabe (1955, Regie: Alexis Minotis) – diese Kostüme produzierten durch die Bewegung der vibrierenden Körper und die wechselnden Rhythmen schöne lineare Schemata und optische Effekte. Sogar die Litze auf dem Kostüm der alten Sklavin in der Inszenierung von Euripides’ Helene (1962, Regie: Takis Mouzenidis) trug dazu bei, die Falte zu schaffen.

 

Giorgos Vakalo stilisierte die Motive und verlieh ihnen eine ganz eigene malerische Identität, während seine Kostüme sich auch wegen der mutigen Farben als malerisches Ereignis etablierten. Giannis Moralis zeigte durch die Pinselstriche auf den Kostümen von Aischylos’ Die Schutzflehenden (1964, Regie: Alexis Solomos), inwiefern die Farbe bei Aufführungen antiker Dramen das herrschende Anliegen eines Malers sein kann bzw. dass er ein Meister der Farbe ist. Die Farbe spielte auch bei den Kostümen von Alekos Fassianos eine wichtige Rolle, wie beispielsweise das intensive Lila in der Aufführung von Euripides’ Helene (1977, Regie: Alexis Solomos). Savvas Charatsidis stützte sich in Euripides’ Die Troerinnen (1983, Regie: Stavros Doufexis) ebenfalls auf die Farbe, um die Intensität zwischen Kostüm, Körper und Maske zu verstärken.

Die Tendenz zur Verzauberung des Blicks durch die Farben und zu einem dekorativen Stil mit dem Ziel einer sinnlichen und genussvollen Ikonographie erreichte einen Höhepunkt in den Aufführungen von Aristophanes’ Komödien. Giorgos Vakalo war einer der Pioniere bei der Artikulation einer visuellen Sprache für das Komische, insbesondere in Die Weibervolksversammlung (1956, Regie: Alexis Solomos). Nikos Chatzikyriakos-Gigas war ihm mit der Aufführung Die Wolken (1951, Regie: Sokratis Karantinos) vorausgegangen. Eines ähnlichen Stils bediente sich Giannis Nikolaou in Die Weibervolksversammlung (1972, Regie: Sokratis Karantinos). In den aristophanischen Komödien des Nationaltheaters suchte man nach einem leichten, spöttischen Esprit, der sich aus den stilisierten Motiven, den Farbspielen und der raffinierten Umgestaltung der griechischen Tradition auf der Grundlage von Tonfiguren und antiker Keramik und Volksmalerei speiste. In diesem Sinne belebte das opulente Dekor mit den graphischen Motiven, den gewebten und bestickten Stoffen eine pittoreske, nostalgische und spielerische Antike wieder.

Der Bruch mit der perfekten Falte als Form fand in den 1980er Jahren statt, als sich ein subversiver Richtungswechsel zum Material hin vollzog, der eine neue Wahrnehmung des Kostüms für das antike Drama zur Folge hatte. Dionissis Fotopoulos, Giorgos Patsas, Vassilis Fotopoulos, Ioanna Papantoniou, Giorgos Ziakas und Damianos Zarifis nahmen an diesem Abenteuer der kräftigen Stoffe teil, die durch ihre wilde Sinnlichkeit neue Formen, Größen und Figurationen für die Kostüme der tragischen oder komischen Personen diktierten. Sie befreiten das Kostüm vom Gefängnis der klassizistischen Falte und dem statuesken Stil. Dionissis Fotopoulos distanzierte sich von der perfekten Form von Antonis Fokas und der Regel der archaistischen Norm und wandte sich zu einer Ausdruckskraft und Dramatisierung, die er durch alle möglichen Interventionen mit den Stoffen erzielte, sogar auch eine extrem künstliche Abnutzung des Stoffes. Alexis Minotis trug 1975 in der eigenen Inszenierung von Sophokles’ Ödipus auf Kolonos einen Lumpen aus fransigem Stoff und Fäden, bearbeitet von Dionissis Fotopoulos, mit der Folge, dass eine amorphe, leuchtende Gestalt die menschliche Figur ersetzte. Gleich ausdrucksstark und voller Bedeutung waren auch die überirdischen weißgoldenen Figuren, die Vassilis Fotopoulos für Aischylos’ Der gefesselte Prometheus kreierte (1979, Regie: Alexis Minotis). Die skulpturalen Stoffe konkurrierten hier mit den skulpturalen Requisiten und schufen damit ein Monument für das Erhabene und den Mythos. Auch das Kostüm von Philoktet in der gleichnamigen Tragödie von Sophokles, den Nikos Kourkoulos verkörperte (1991, Regie: Diagoras Chronopoulos), stützte sich auf dem Effekt des Materials. Dionissis Fotopoulos identifizierte die Lumpen des Kostüms mit dem menschlichen Lumpen, als der Philoktet dargestellt wurde.

Das Material, der Stoff und seine Plastizität beschäftigten Giorgos Patsas seit den 1970er Jahren, eine Tendenz, die sich klar in Euripides’ Hippolytos (1973, Regie: Spyros Evangelatos) zeigte. Andere Beispiele für diese kostümbildnerische Richtung von Patsas bildeten das rote Kostüm für Klytämnestra mit den Fransen, Gewebebindungen und Zöpfen, das Kakia Panagiotou in Euripides’ Elektra trug (1980, Regie: Giorgos Theodossiadis); das priesterliche, modernistische Kostüm für Kariofylia Karambeti als Medea in der gleichnamigen Tragödie von Euripides (1997, Regie: Niketi Kondouri) und das dicke gestrickte Kostüm für die gleiche Schauspielerin in der Rolle der Elektra in der gleichnamigen Tragödie von Sophokles (1998, Regie: Dimitris Mavrikios).

Die Opulenz der Farbe und zugleich einen ganzen Kosmos von volkskundlichen Elementen etablierte Ioanna Papantoniou, die mit der kreativen Aneignung traditioneller Techniken und des Handwerks arbeitete. Die Kostüme von Nikos Kourkoulos (Orest) und Eleni Chatziargyri (Elektra) in Euripides’ Orest (1971, Regie: Alexis Solomos) folgten zum Teil Antonis Fokas’ Ästhetik. Beim Kostüm der Medea allerdings, das Eleni Chatziargyri in der gleichnamigen Tragödie von Euripides trug (1976, Regie: Alexis Solomos), artikulierte Ioanna Papantoniou eine Neubearbeitung ethnographischer Elemente, die sie im Namen der Theatralität postulierte. Dionissis Fotopoulos forderte durch phantasmagorische Farben und Stoffe die Grenzen der volkskundlichen Referenz und des Exotischen heraus, als er die Kostüme von Aspasia Papathanassiou (Klytämnestra) und Stefanos Kyriakidis (Aigisthos) für Sophokles’ Elektra lieferte (1996, Regie: Lydia Koniordou).

Damianos Zarifis kombinierte in Sophokles’ Elektra (1986, Regie: Giorgos Michailidis) die Materialität und Selbstständigkeit des Stoffes mit einem eigenen Experimentieren auf dem Gebiet der Farbe. Diese Kombination zeugte von der Distanz und vom Maßhalten des Kostümbildners gegenüber der Faltentradition sowie gegenüber dem Einfallsreichtum, der Sensation des Originellen und dem Spektakulären, die damals als Zeitgeist galten.

Die Collage verschiedener Materialien, die Giorgos Ziakas in Aischylos’ Sieben gegen Theben (1987, Regie: Kostas Bakas) einsetzte, offenbarte die plastische Art und Weise, mit der er das Kostüm betrachtete. Die Transformation des wertlosen Materials in etwas Wertvolles war ein Verfahren, das schon Antonis Fokas liebte. Damit bezeugte er, dass der Kostümbildner genau wie der Bildhauer das Geheimnis seines Materials und die poetische Kraft der künstlerischen Bearbeitung erkennen kann. Die plastische Dimension der Kostüme von Ziakas allerdings war weniger das Produkt einer solchen Transformation. Sie entstand vielmehr durch das Material der handgemachten Stoffe selbst, die durch Einzigartigkeit und Authentizität herausragten.